Zum Zusammenhang von Sprechtempo und Ausspracheverschleifungen im deutschen Sprachraum

Die Berliner/innen sprechen alle schnell, die Schweizer/innen langsam (und die Berner/innen erst!!). In Hannover spricht man klar und deutlich, in Sachsen wird genuschelt und die Norddeut­schen (vonne waterkant) sind eben sehr einsilbig. Solche und weitere subjek­ti­ve Alltags­theo­rien bestehen zuhauf und sind immer wieder Grundlage für (regio­nal­sprach­li­che) Abgren­zungs­ver­su­che zu den „Anderen“. Oft wird dabei auch auf gängige (oder manchmal sogar nur ad hoc gebildete?) Stereo­ty­pe zurück­ge­grif­fen, bei denen diese Anders­ar­tig­keit der Anderen auf ihre spezielle Art zu sprechen zurück­ge­führt werden soll. Aber stimmen solche Annahmen? Gibt es überhaupt Regionen, in denen nachweis­lich schneller oder langsamer gespro­chen wird? Und gibt es wirklich Regionen, in denen die Leute stärker „nuscheln“ und verschlif­fe­ner sprechen als andere? Und müsste das dann nicht auch zusam­men­hän­gen, müssten nicht die Schnellsprecher/innen auch automa­tisch verschlif­fe­ner sprechen?

Daten und makroskopische Zusammenhänge

Die obigen Karten in Abb. 1 ermög­li­chen zunächst einen Ansatz zur Beant­wor­tung einiger dieser Fragen. Die Daten­grund­la­ge hierfür bilden Aufnahmen von 327 Sprechern (m.) aus 165 Orten jener Länder und Regionen in Mittel­eu­ro­pa, in denen Deutsch Amtsspra­che ist, also Deutsch­land, Öster­reich, Schweiz, Ostbel­gi­en, Luxemburg und Südtirol (Autonome Provinz Bozen, Italien). Es handelt sich um die Nordwind und Sonne-Aufnahmen aus dem Deutsch heute-Korpus des IDS Mannheim (vgl. Kleiner 2015), bei denen die Sprecher den Text in normalem und schnellem Tempo vorlesen mussten, wobei in Abb. 1 nur die normalen Lesungen einbe­zo­gen werden. Die Sprecher sind in diesem Fall allesamt Schüler der Abitur- bzw. Matura­klas­sen­stu­fen (17–20 J.), welche in dem reprä­sen­tier­ten Orten oder der nächsten Umgebung aufge­wach­sen sind und keine spezielle spreche­ri­sche Ausbil­dung genossen haben.

Abb. 1: Makro­sko­pi­sche Messwerte bei normalem Lesetempo: Artiku­la­ti­ons­dau­er (ArtDur) in s (links), Artiku­la­ti­ons­ra­te (AR) in Segmenten/s (mitte) und Segmen­te­li­si­ons­grad (SEG) in % (rechts); Hinter­grund: Dialekt­ein­tei­lungs­kar­te nach Wiesinger (1983: 831). 

Diese Aufnahmen wurden im Rahmen des Leipziger SpuRD-Projektes (vgl. Hahn/Siebenhaar 2016, 2019b) zunächst über das online­ba­sier­te Tool WebMaus automa­tisch vorseg­men­tiert (vgl. Kisler et al. 2017) und anschlie­ßend auf Segment- und Wortebene manuell in Praat (Boersma/Weenik 2020) hinsicht­lich der Annota­ti­on und der Zeitmar­ken­set­zung angepasst. Aus diesen Daten lässt sich nun (u.a.) die Anzahl der tatsäch­lich reali­sier­ten Segmente, deren konkrete Dauern und – aus der Summe dieser Segment­dau­ern – die Gesamt­ar­ti­ku­la­ti­ons­dau­er ermitteln, welche die Basis für die Kartie­run­gen in Abb. 1 bilden.

Die linke Karte (ArtDur in s) gibt die gesamte Artiku­la­ti­ons­dau­er in Sekunden an. Das ist – als die Summe aller Segment­dau­ern – jene Zeit, die die unter­such­ten Sprecher benötig­ten, um den für alle identi­schen Text vorzu­le­sen, wobei hier alle Pausen­zei­ten und verein­zel­te Verspre­cher nebst Repara­tu­ren heraus­ge­rech­net wurden. Die mittlere Karte gibt die Artiku­la­ti­ons­ra­te (AR in Segm/s) an, die sich berechnet aus der Anzahl der tatsäch­lich reali­sier­ten Lautseg­men­te geteilt durch die Artiku­la­ti­ons­dau­er. Diese beiden Karten zeigen also zwei Möglich­kei­ten, das Tempo von Gespro­che­nem zu quanti­fi­zie­ren und abzubil­den. Schließ­lich gibt die rechte der drei Karten über den Segmen­te­li­si­ons­grad (SEG) prozen­tu­al an, wie viele der im Text vorge­se­he­nen Lautseg­men­te im Durch­schnitt ausge­las­sen werden, wie viel von den kanoni­schen zu erwar­ten­den Segmenten also verschlif­fen wird.

Abb. 2: Scatter-Plotts, Histo­gram­me und Pearson-Korrelationen für ArtDur, AR und SEG
VariableN_SprecherMittel­wertStd.-Abw.MinimumMaximum
ArtDur in s32731,42,3526,041,8
AR in Segm/s32717,31,1013,320,1
SEG in %32712,83,701,022,0
Tab. 1: Deskrip­ti­ve Statistik zu den makro­sko­pi­schen Messungen

Bevor wir uns die sprach­räum­li­chen Struk­tu­ren genauer besehen, blicken wir hier noch einmal auf die Gesamt­da­ten. Wie liegen also die allge­mei­nen Verhält­nis­se? Abb. 2 zeigt die Zusam­men­hän­ge und Distri­bu­tio­nen, Tab. 1 gibt die deskrip­ti­ven Statis­ti­ken zu diesen drei makro­sko­pi­schen, d.h. über das Textganze gemit­tel­ten Messva­ria­blen. ArtDur und AR, als Maße des Tempos des Gespro­che­nen, korre­lie­ren sehr stark negativ mit einander (r= ‑0.81): Je geringer die Artiku­la­ti­ons­ra­te ist, desto höher ist die Artiku­la­ti­ons­dau­er (“Je schneller die Laute gebildet werden, desto eher ist man fertig mit dem Text.”). Die Artiku­la­ti­ons­dau­er wird aber erwar­tungs­ge­mäß auch vom Grad der Segmen­te­li­si­on beein­flusst. Diese Maße korre­lie­ren ebenfalls negativ und noch auf mittlerem Niveau (r= ‑0.5): Je höher also die Segmen­te­li­si­ons­wer­te, desto geringer die Artiku­la­ti­ons­dau­er (“Je mehr Laute wegge­las­sen werden, desto eher ist man fertig mit dem Text.”). AR und SEG hingegen korre­lie­ren nicht mitein­an­der (r= ‑0.09): Die durch­schnitt­li­che Anzahl reali­sier­ter Segmente pro Zeit (bzw. reziprok auch die durch­schnitt­li­chen Lautdau­ern) und die Elisi­ons­ver­hält­nis­se stehen demnach in keinem allge­mei­nen Zusam­men­hang. Die Antwort auf die Frage, ob Sprech­tem­po und Ausspra­che­ver­schlei­fun­gen zusam­men­hän­gen, ist demnach ein: “kommt darauf an!” Je nachdem, welches Sprechtempo-Äquivalent angesetzt wird, kommt man auf unter­schied­li­che statis­ti­sche Zusam­men­hän­ge (vgl. hierzu auch Trouvain 2004, Weiss 2008 und Lanwer 2015).

Tempo und Segmentrealisierung sind regional verschieden konfiguriert

Mit Blick auf die Karten in Abb. 1 lässt sich dieses Bezie­hungs­ge­flecht nun aber noch etwas entwirren. Links und in der Mitte sind die Sprechtempo-Äquivalente abgebil­det, die ihren starken Zusam­men­hang erst auf den zweiten Blick preis­ge­ben, da die Farbge­bung wert- und nicht inhalts­ori­en­tiert ist. D.h. je brauner ein Areal, desto höher sind die dort gemes­se­nen Werte („Berge“) und je blauer ein Areal, desto niedriger sind die dortigen Werte („Täler“) (zur Methodik im Detail vgl. Hahn/Siebenhaar 2019b, Hahn i. Vorb.). Das Beispiel der Schweiz und des aleman­ni­schen Raumes kann das verdeut­li­chen: In der linken Karte zur ArtDur ist dieses Areal braun, die Sprecher dort zeigen also hohe Artiku­la­ti­ons­dau­ern. In der mittleren Karte ist derselbe Bereich eher blau, die Sprecher haben folglich Artiku­la­ti­ons­ra­ten am unteren Ende der Skala. In beiden Fällen kann man aber daraus schließen, dass insbe­son­de­re die Schweizer „langsamer“ lesen. So verhält es sich auch in den meisten anderen Gebieten: da, wo sich hohe Artiku­la­ti­ons­ra­ten finden, ist ebenfalls die Artiku­la­ti­ons­dau­er geringer und vice versa. Es zeigen sich aber Regionen wie der nordnie­der­deut­sche Raum, wo parado­xer­wei­se im Mittel schnell (ArtDur) und langsam (AR) gelesen wird, je nach dem welches Maß man nimmt (vgl. Hahn i. Vorb.). Der Vergleich dieser beiden Karten mit jener für den SEG offenbart das komplexe Zusam­men­spiel dieser Faktoren. Das Beispiel der Schweiz zeigt zunächst den erwart­ba­ren Zusam­men­hang: hohe Artiku­la­ti­ons­zeit, niedrige Artiku­la­ti­ons­ra­te und ebenfalls eine niedrige Elisi­ons­ra­te. Die Schweizer Sprecher produ­zie­ren die Laute demnach durch­schnitt­lich länger und sie verschlei­fen im Vergleich zur kanoni­schen Grundlage auch weniger Lautseg­men­te, weshalb sie letztlich deutlich länger brauchen, den Text zu lesen. Eine etwas andere Situation zeigt sich im nord- und mittel­bai­ri­schen Raum. Hier benötigen die Sprecher ebenfalls mehr Zeit als der Durch­schnitt (hell- und dunkel­brau­ne Färbung = 31,7–34,3 s > MWgesamt = 31,4 s). Die Artiku­la­ti­ons­ra­ten und damit wieder die mittleren Lautdau­ern liegen aber eher im mittleren Bereich um 16,5–16,7 Segm/s. Der SEG liegt aber ähnlich wie bei den Schweizer Sprechern: auch hier wird wenig verschlif­fen (nur ca. 8 – 10 %). Wiederum eine andere Konstel­la­ti­on ergibt sich im südbai­ri­schen Gebiet: nämlich eine mittlere ArtDur mit einer sehr hohen AR, jedoch kombi­niert mit einem niedrigen SEG. Die Karten ließen sich an dieser Stelle auch für die anderen Regionen des Deutschen noch im Detail betrach­ten, für die Darstel­lung des regional variie­ren­den Zusam­men­hangs zwischen Sprechtempo-Äquivalenten und Segmen­te­li­si­on mag das Beispiel des oberdeut­schen Raumes hier aber genügen. Man kann aussagen, dass die regio­na­len Verhält­nis­se bei ausschließ­lich statistisch-makroskopischer Betrach­tung der Gesamt­da­ten (Abb. 2) in gewisser Weise nivel­liert werden, da die gespro­che­ne Sprache in den Regionen des Deutschen in temporal-realisationaler Hinsicht unter­schied­lich konfi­gu­riert sind. Eine Situation, die letztlich erst die sprach­geo­gra­fi­sche Auswer­tung konkreter Messungen sichtbar macht. 

Erklärungsansatz zum Nord-Süd-Kontrast

Der Blick auf Abb. 1 lässt – bei aller klein­räu­mi­gen Varianz, die hier schon wegen der gerin­ge­ren Ortsnetz­dich­te vernach­läs­sigt werden muss – sowohl für die ArtDur als auch für den SEG einen deutli­chen Nord-Süd-Kontrast hervor­tre­ten. Wenigs­tens für den Grad an Segment­ver­schlei­fun­gen kann damit der schon von Meinhold (1973) und Kohler (2001) vermutete Nord-Süd-Kontrast für Reduk­ti­ons­pro­zes­se im Deutschen nun auch empirisch nachge­wie­sen werden. Dieser Gegensatz zwischen dem Norden, wo weniger Zeit zum Lesen des Textes benötigt und mehr verschlif­fen wird, und dem Süden, wo man mehr Zeit benötigt und weniger verschleift, lässt sich verstehen, wenn man die regionale Vertei­lung des SEG vor dem Hinter­grund regional variie­ren­der verti­ka­ler Sprechla­gen­spek­tren betrach­tet (die Diskus­si­on zusam­men­fas­send vgl. Schmidt 2017). Denn diesen liegt u.a. auch eine regio­nal­spe­zi­fisch ausge­präg­te Alltags­re­le­vanz der hier unter­such­ten Sprechla­ge, dem inten­dier­ten Standard, zugrunde. Diese Situation spiegelt sich auch in der Vertei­lung der phone­ti­schen Standard­dif­fe­ren­zen regio­na­ler Vorle­se­aus­spra­che (vgl. Kehrein 2008: 329) wider, mit denen der Segment­ver­schlei­fungs­grad daher nicht zufällig räumlich auch sehr stark korre­liert. Verein­facht ausge­drückt verhalten sich die Sprecher dieser Genera­ti­on im Nordwes­ten Deutsch­lands in sprach­li­cher Hinsicht aufgrund der phone­ti­schen Nähe zwischen der Standard­aus­spra­che und ihrem Regiolekt, über den sie ausschließ­lich verfügen, entspre­chend auch kollo­quia­ler in der Lesesi­tua­ti­on, was dann zu einem höheren Segmen­te­li­si­ons­grad führt. Ein kollo­quia­les sprach­li­ches Verhalten meint hier, dass die Sprecher das stilis­ti­sche Niveau ihrer Ausspra­che zwischen alltäg­li­chen und forma­le­ren, Standard­spra­che evozie­ren­den Situa­tio­nen weniger variieren und dabei insgesamt eine geringere Artiku­la­ti­ons­prä­zi­si­on anstreben. Im Norden und Nordwes­ten des Unter­su­chungs­raums finden sich bedeutend häufiger Reali­sie­run­gen wie [baIn=] ‚beiden‘, [dEsso] ‚desto‘, [van@R6] ‚Wanderer‘ oder [zaIn] ‚seinen‘, bei denen v.a. inlau­ten­de Plosive mit dem phone­ti­schen Umfeld assimi­lie­ren und Neben­sil­ben durch Schwa-Elision und Assimi­la­ti­on der dadurch entste­hen­den Konso­nan­ten­clus­ter abgebaut werden. (Was dann tatsäch­lich häufiger zur Einsil­big­keit führt…) Die verti­ka­len Varia­ti­ons­spek­tren gehen aber, je weiter südlich man schaut, weiter ausein­an­der. Die Alltags­spra­che ist dort entspre­chend auch standard­fer­ner und die phone­ti­schen Distanzen zum Standard steigen an. Die Sprecher im Süden verhalten sich in dieser Situation weniger kollo­quial und orien­tie­ren sich stärker an der kanoni­schen Grundlage (sie bemühen sich sozusagen mehr), was in segmental-reduktiver (nicht quali­ta­ti­ver!) Hinsicht ein ‚buchsta­ben­treue­res‘ Lesen zur Folge hat. Letzteres zeigt sich insbe­son­de­re bei der Reali­sie­rung von Schwa in Neben­sil­ben des Typs Nasal-Schwa-Nasal wie in einen, seinen oder zwingen die im (ost-)oberdeutschen Raum in dieser Situation noch kodifi­zie­rungs­ge­mäß (vgl. Duden Ausspra­che­wör­ter­buch: Kleiner a. 2015, 39–40) reali­siert werden, während sie im gesamten nord- und mittel­deut­schen Raum nicht mehr oder nur noch spora­disch gebildet werden (vgl. Hahn/Siebenhaar 2019a).

Während sich die Werte für die Elisi­ons­ra­ten gut über die varia­ti­ons­lin­gu­is­ti­schen Bedin­gun­gen der Situation erklären lassen, scheinen die mittleren Lautdau­er­ver­hält­nis­se, die sich in der Artiku­la­ti­ons­ra­te ausdrü­cken, dialektal oder regio­lek­tal bedingt zu sein. Mit Ausnahme der Schwei­zer­deut­schen Dialekte (vgl. zusam­men­fas­send Sieben­haar 2015, Leemann 2017) fehlen leider bislang die Vergleichs­grund­la­gen umfas­sen­der dialek­ta­ler oder regio­lek­ta­ler Dauermessungen.

Zur tempounabhängigen progressiven Nasalassimilation in Nebensilben

Über den genannten unter­schied­li­chen Alltäg­lich­keits­grad der Standard­spra­che lässt sich folglich ein wichtiger Teil der Variation nachvoll­zie­hen. Im Folgenden soll aber ein Beispiel betrach­tet werden, das sich dieser Erklärung entzieht und aufzeigt, dass auch dialek­ta­le Prägung der Ausspra­che – sozusagen durch artiku­la­to­ri­sches Training – dazu führen kann, gewisse Reali­sa­ti­ons­phä­no­me­ne über die Varie­tä­ten­gren­zen hinweg zu reali­sie­ren. Hierbei handelt es sich um die Tendenz, finale Nasale in Neben­sil­ben nach Schwa-Elision an den Artiku­la­ti­ons­ort des voraus­ge­hen­den Plosivs anzuglei­chen. Auch hier sollte man meinen, dass schnel­le­res Sprechen zu höheren Assimi­la­ti­ons­ten­den­zen führt. Ein Zusam­men­hang zwischen den Sprechtempo-Äquivalenten und der Häufig­keit assimi­lier­ter Belege (Nass) zeigt sich aber in den SpuRD-Daten nicht. Für die folgenden Berech­nun­gen und Kartie­run­gen einbe­zo­gen wurden die Beleg­wör­ter Augenblicken, zugeben und wenigen, je für das schnelle und normale Lesetempo zusam­men­ge­nom­men, sodass maximal acht Belege pro Sprecher vorliegen. Die Korre­la­ti­on nach Pearson zwischen ArtDur und Nass beträgt r= ‑0.19 für normales und r= ‑0.05 für schnelles Lesen, für die AR und Nass jeweils r= +0.13. Das Ausmaß an Assimi­la­tio­nen in dieser Position hängt folglich nicht mit dem Tempo des Gespro­che­nen zusammen.

Abb. 3: Verbrei­tungs­area­le der Nasalas­si­mi­la­ti­on in Neben­sil­ben im Vergleich zwischen schrift­sprach­li­chem Dialekt­ma­te­ri­al (KDSA, links,) und sprech­sprach­li­chem, standard­in­ten­dier­tem Material (SpuRD, rechts); Hinter­grund: Dialekt­ein­tei­lungs­kar­te nach Wiesinger (1983: 831).

In Abb. 3 lassen sich nun zwei Karten mitein­an­der verglei­chen. Zum einen die Vertei­lung von auf Assimi­la­ti­on von -n hinwei­sen­den Schrei­bun­gen (also m- bzw. ng-Schrei­bun­gen) aus dem Kleinen Deutschen Sprach­at­las (KDSA, Veith et al. 1984) in den Träger­wör­tern Abend, geblieben, oben, treiben, gestorben, Augen­blick­chen, fliegen und liegen (Kartennr.: 23, 24, 27, 28, 33, 99–101) die über das REDE SprachGIS (Schmidt et al. 2008ff.) zusam­men­ge­tra­gen und überblen­det wurden. Je inten­si­ver die Farben in dieser Abbildung sind, desto häufiger finden sich in der betref­fen­den Region assimi­lier­te Belege im KDSA. Zum anderen werden die oben genannten Häufig­kei­ten ortsas­si­mi­lier­ter Nasale für Belege aus dem SpuRD-Projekt ausge­zählt und kartiert (rechte Karte in Abb. 3). Auch hier verweist ein inten­si­ve­res Rot auf häufigere Vorkommen assimi­lier­ter Belege (zu den Details vgl. Hahn i. Vorb.: Kap. 5.3.2). Kurzum: die Regionen mit der höchsten Dichte an assimi­lier­ten Belegen sind in beiden Fällen weitge­hend kongruent. Es ergeben sich jeweils ein norddeut­sches Areal mit einem Zentrum in etwa zwischen Lünebur­ger Heide und Holstein sowie ein verbun­de­nes obersäch­si­sches, ostfränk­si­ches, nord- und mittel­bai­ri­sches Areal, in denen die Assimi­la­ti­ons­ten­den­zen für diese Position stärker sind als in den anderen Regionen des Deutschen. Die dialek­ta­len Gegeben­hei­ten dieser Assimi­la­ti­ons­ten­denz in den Neben­sil­ben zeigen sich in diesem Fall also auch unabhän­gig vom jewei­li­gen Sprech­tem­po, das sich, wie wir weiter oben gesehen haben, zwischen dem nord- und süddeut­schen Raum erheblich unterscheidet.

Fazit

Sprech­tem­po und phone­ti­sche Reduktion (Verschlei­fun­gen) zeigen jeweils regional eigen­stän­di­ge Variation, obwohl sie nachvoll­zieh­bar eng mitein­an­der verzahnt sind. Dafür verant­wort­lich sind, was das hier ausge­wer­te­te Material angeht, die regional diffe­ren­ten varia­ti­ons­lin­gu­is­ti­schen Bedin­gun­gen für den inten­dier­ten Standard auf der einen Seite sowie die dialek­ta­len bzw. regio­lek­ta­len Artiku­la­ti­ons­ge­wohn­hei­ten (Assimi­la­ti­ons­ten­den­zen, timing-Strukturen usw.) auf der anderen Seite. Die eingangs erwähnten Alltags­theo­rien beziehen sich in aller Regel auch auf das alltäg­li­che Sprechen bzw. auf medial häufig vermit­tel­tes, stereo­ty­pi­sier­tes Sprechen gewisser Sprecher/innengruppen. Unter Rückgriff auf standard­in­ten­dier­te Leseaus­spra­che lassen sich diese hier nun leider nicht umfassend aufklären. Die Schweizer Aufnahmen bspw. sind im Mittel zwar wirklich deutlich langsamer als bei den übrigen Deutsch­spra­chi­gen. Aber auch hier findet sich bedeu­ten­de Binnen­va­ria­ti­on v.a. zwischen Bernern und Wallisern, die auch Sieben­haar (2015) und Leemann (2017) für Dialekt­auf­nah­men beschrei­ben. Das ganze Feld dialek­ta­ler und regio­lek­ta­ler Dauer­va­ria­ti­on ist – mit Ausnahme der Schweiz – für das Deutsche noch nicht weiter erforscht. Dennoch ist nun eine Inter­pre­ta­ti­ons­fo­lie für den gesamten deutsch­spra­chi­gen Raum vorhanden, mit der weitere Verglei­che und Relati­vie­run­gen von Messungen für das Deutsche unter­nom­men werden können. 

Der Beitrag ist sozusagen ein Teaser für meine Disser­ta­ti­on, die im Frühjahr 2022 in der Reihe Deutsche Dialekt­geo­gra­phie (DDG) bei OLMS erschei­nen wird, und ein Resultat des 2018–2021 von der DFG geför­der­ten Projektes „Sprech­tem­po und Reduktion im Deutschen (SpuRD)“ ist, das an der Univer­si­tät Leipzig unter der Leitung von Beat Sieben­haar durch­ge­führt wurde; DFG-Fördernummer: SI 1656/5–1.

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Diesen Beitrag zitieren als:

Hahn, Matthias. 2021. Zum Zusam­men­hang von Sprech­tem­po und Ausspra­che­ver­schlei­fun­gen im deutschen Sprach­raum. Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 1(10). https://doi.org/10.57712/2021-10.

Matthias Hahn
Dr. Matthias Hahn ist seit Juni 2021 mit der Geschäftsführung am Deutschen Sprachatlas betraut. Zuvor promovierte er in Leipzig zum Thema "Sprechgeschwindigkeit und Reduktion im deutschen Sprachraum". Als wissenschaftlicher Mitarbeiter des DSA gilt sein Forschungsinteresse in Zukunft vor allem der Erschließung dynamischer Sprachräume mit dem Fokus auf semantischen Raumstrukturen.