Dass das Deutsche regionalsprachliche Variation aufweist, wissen viele: Was dem Berliner die Schrippen sind, heißt in Bayern Semmel und in Schwaben Weck. Auch Unterschiede im lautlichen Bereich sind Ihnen wahrscheinlich mehr oder weniger bekannt. Heißt es beispielsweise in Bayern I hob, so findet man in Norddeutschland Ik heff, Ik hewwe und dazwischen, im Mittelhessischen, Aich hon, Ech hu und Äich ho. Doch wie steht es um den Satzbau? Traditionell wurde er bei der Frage nach dialektalen Unterschieden eher stiefmütterlich behandelt. Aber gibt es hier vergleichbare regionale Unterschiede? Diese Frage wird gerade am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas erforscht.
Mithilfe eines digitalen Fragebogens, in dem Sprecherinnen und Sprecher Auskunft über die Ihnen vertrautesten Ausdrucksweisen geben können, werden zahlreiche Erscheinungen des Satzbaus erhoben. Mit dazu gehören etwa die folgenden Konstruktionen:
- Das ist (dem) Thomas sein Bruder vs. Das ist der Bruder von/vom Thomas.
- Das Fahrrad, das vs. was vs. wo vs. das wo vorm Haus steht, kenne ich nicht.
- Thomas ist größer wie sein Bruder vs. Thomas ist größer als sein Bruder.
Erste Ergebnisse zeigen deutliche geographische Unterschiede, aber auch solche zwischen verschiedenen Sprechweisen: Im Dialekt eines Orts gelten andere Konstruktionen als in der regionalen Alltagssprache oder im „Hochdeutsch“ desselben Orts. Satzbau variiert also nicht nur von Dialekt zu Dialekt, sondern auch zwischen Dialekt und Standardsprache. Diese Variation zu erfassen, ist eine Aufgabe, der sich das Akademieprojekt Regionalsprache.de (REDE) widmet.
Wie ergiebig das Vorhaben ist, zeigen erste Auswertungen der Erhebung zu den sogenannten „Vergleichspartikeln“ (Beispiel 3). Überlegen Sie doch kurz, wie Sie die folgende Erhebungsfrage beantworten würden. Vielleicht fällt Ihnen die Antwort gar nicht so leicht oder Sie würden – je nach Situation – jeweils andere Formen verwenden?
In der Standardsprache sind die Vergleichspartikeln klar bestimmt: Als Komparativpartikel (Vergleich ungleicher Größen) ist nur als zugelassen: Thomas ist größer als sein Bruder. Für den Äquativvergleich (Vergleich gleicher Größen) wird die Partikel wie verwendet: Thomas ist so groß wie sein Bruder. In den Grammatiken werden zwar noch ein paar andere Varianten genannt, diese werden jedoch als umgangssprachlich (größer wie), veraltet (besser denn je) oder als heute ungebräuchlich (und bin so klug als wie zuvor, Goethes Faust) ausgewiesen.
Ein Blick in die deutsche Sprachgeschichte
Ein Blick in die Sprachgeschichte zeigt, wie dynamisch sich der Ausdruck von Vergleichen gewandelt hat. So zeigt die Studie von Jäger (2018) zweierlei: zum einen, dass sich im Laufe der deutschen Sprachgeschichte immer wieder neue Ausdrücke zu festen grammatischen Formen entwickelt haben, mit denen Vergleiche ausgedrückt werden; und zum anderen, dass diese historisch zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstandenen Formen heute noch koexistieren.
Tabelle 1 zeigt, dass im Mittelalter die Vergleichspartikeln ähnlich waren wie heute im Englischen. Für den Äquativvergleich wurde als verwendet (vgl. Englisch as big as), für den Komparativvergleich denn (vgl. Englisch bigger than). Das englische as und das deutsche als, sowie das englische than und das deutsche denn sind historisch miteinander verwandt. Im Frühneuhochdeutschen kommt nun eine neue Form hinzu. Für bestimmte Äquativbeziehungen (die sog. Nicht-Grad-Äquative: Spalte ‚so wie‘ in Tab. 1) wird nun wie verwendet: Thomas ist so wie sein Bruder. Die Form wie setzt sich dann im Laufe der Zeit immer stärker durch. Zugleich wird die Form als zunehmend für den Komparativbereich verwendet und löst dort das ältere denn ab. Im 19. Jahrhundert wird der ganze Äquativbereich mit der Partikel wie ausgedrückt, womit das heutige standardsprachliche System erreicht ist. Zugleich geht die Entwicklung in der regionalen Mündlichkeit weiter. Die wie-Form wird schrittweise immer stärker auch für die Komparativbeziehung verwendet, so dass in vielen Dialekten heute kein Unterschied mehr zwischen den Partikeln in ‚größer als‘- und ‚so groß wie‘-Beziehungen gemacht wird: Die Partikel wie wird für alle Vergleichsarten verwendet. Hinzu kommt die Form als wie, die seit dem 17. Jahrhundert belegt ist (vgl. Goethes und bin so klug als wie zuvor) und heute in der regionalsprachlichen Mündlichkeit häufig verwendet wird.
Ein Blick in die Dialekte des 19. Jahrhunderts
Im „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ von Georg Wenker ist die Verteilung der Varianten in den Dialekten des 19. Jahrhunderts dokumentiert. In Karte 1 ist zu sehen, welche Partikeln in den Dialekten für den Komparativvergleich verwendet werden. Die damaligen Gewährspersonen sollten dabei einen sogenannten Wenkersatz (Nr. 15) aus der allgemeinen Schriftsprache in ihren jeweiligen Dialekt übersetzen. In dem vorgegebenen Satz kommt der Vergleich früher… als die Anderen vor.
Karte 1 enthält eine gelbe Fläche und farbige Punkte. Die gelbe Fläche markiert eine sogenannte „Leitform“, die überall dort gilt, wo keine farbigen Punkte sie überdecken. Diese Leitform ist die Partikel als, die heute als standardsprachlich gilt. In den Dialekten wird sie vor allem im Niederdeutschen (norddeutscher Sprachraum) verwendet, sie tritt jedoch auch im süddeutschen Raum als Leitform auf. Die roten und orangefarbenen Symbole stehen für die Formen wie beziehungsweise als wie, die in der Karte vor allem in den mitteldeutschen Dialekten, aber auch darüber hinaus verwendet werden. In den süddeutschen Dialekten finden sich zudem weitere Formen (was, das, wedder), die auch historisch belegt werden konnten und sehr alte Formen darstellen. Die Wenker-Karte zeigt also zu einem Zeitschnitt, Ende des 19. Jh., Formen, die sich historisch im Laufe von über 1000 Jahren entwickelt haben und noch zeitgleich in den Dialekten vorhanden sind. Neben altem was, wedder und als enthält die Karte auch die neuen wie- und als wie-Formen, die sich erst spät zu festen grammatischen Formen zum Ausdruck von Komparativbeziehungen entwickelt haben.
Und heute?
Mit der Erhebung zum regionalsprachlichen Satzbau im Rahmen des Projekts Regionalsprache.de (REDE) erforschen wir nun, wie die Entwicklung weiterging. Welche Komparativpartikeln werden heute verwendet – in einem Zeitalter, das kommunikativ von überregionalen Medien und hoher Mobilität geprägt ist? Diese Entwicklungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Fahrt aufgenommen“ haben und andauern, haben die Struktur der Sprachkompetenz und damit auch die Sprachlandschaft stark verändert. Sie haben auf der einen Seite zur Herausbildung einer alle regionalen Sprechweisen „überdachenden“ Standardsprache mit hohem Prestige geführt (umgangssprachlich „Hochdeutsch“), an der sich Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Herkunft orientieren, wenn sie miteinander sprechen. Und zum anderen haben sie dazu geführt, dass sich „zwischen“ den Sprechweisen mit der geringsten kommunikativen Reichweite, den Dialekten, und den Formen der überdachenden Standardsprache, also „Hochdeutsch“, neue regional begrenzte Sprechweisen herausgebildet haben, die in Bezug auf ihre kommunikative Reichweite zwischen den alten Dialekten und „Hochdeutsch“ rangieren. Man kann sie „regional gefärbte Alltagssprachen“ oder „Regiolekte“ nennen.
In bestimmten Regionen des Deutschen, besonders dem Norden und dem Osten, haben „Hochdeutsch“ und die „regional geprägte Alltagssprache“ die alten Dialekte als die verbreitetste Sprechweise abgelöst. Andernorts, vor allem im Süden Deutschlands und im mittleren Westen, existieren die drei Sprechweisen nebeneinander fort, oft auch in ein und derselben Person, und werden in verschiedenen Typen von Kommunikationssituationen verwendet. In unserer Erhebung des regionalen Satzbaus zielen wir auf alle drei Sprechweisen. Alle Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen können an dieser Erhebung teilnehmen und dabei in der Sprechweise antworten, die ihnen am vertrautesten ist.
Erste Anhaltspunkte zu den heute verwendeten Vergleichspartikeln bringt die folgende Zwischenauswertung der Aufgabe in Abbildung 1, bei der es um eine Komparativbeziehung geht. Karte 2 zeigt, was Gewährspersonen angekreuzt haben, deren vertrauteste Sprechweise der Dialekt ist. In Karte 3 sind die Ergebnisse für die Sprecherinnen und Sprecher zu sehen, die ihre vertrauteste Sprechweise als „regional gefärbte Alltagssprache“ beschrieben haben, und Karte 4 illustriert die Ergebnisse für diejenigen, deren vertrauteste Sprechweise laut eigener Angabe „Hochdeutsch“ ist.
Was ist zu sehen?
- Die Sonderformen der Dialekte aus Karte 1 (was, das, wedder) lassen sich in der Dialektkarte (Karte 2) nicht mehr belegen. Sie wurden zugunsten der großräumigen Formen (als, wie, als wie) abgebaut. Im Niederdeutschen (Norddeutschland) wurden noch punktuell die alten plattdeutschen als-Formen (as, asse) angegeben.
- In der regional gefärbten Alltagssprache treten die wie- und als wie-Formen (rot bzw. orange) nun nicht nur im mitteldeutschen Raum und vereinzelt im Süddeutschen auf, sondern überall, auch im norddeutschen Raum, in dem dialektal (Karte 2) und historisch (Tabelle 1) nur als-Formen dokumentiert wurden. Diese Formen breiten sich also weiterhin aus. Die Entwicklung, die in Tabelle 1 für die „Dialekte / Umgangssprachen“ schon angedeutet wurde, lässt sich nun empirisch anhand der Erhebung und des Kartenbilds bestätigen.
- Sprecher/innen, deren vertrauteste Sprechweise „Hochdeutsch“ ist, wählen in der Fragebogenerhebung überwiegend die standardsprachliche als-Form, punktuell sehen wir aber auch wie-Formen, die darauf hindeuten, dass in der Standardsprache die Variation zunimmt. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis Sätze wie Thomas ist größer wie sein Bruder auch im Grammatik-Duden als normale Form akzeptiert werden. Ähnliche Tendenzen finden sich in den ersten Ergebnissen zu anderen Phänomenen. Bei dem sogenannten „Präpositionaladverb“ davon zum Beispiel (Davon habe ich noch nichts gehört) zeigt sich in unseren Ergebnissen, dass Formen, die als nicht standardsprachlich gelten, im gesprochenen „Hochdeutsch“ durchaus häufig verwendet werden. So sagen viel Süddeutsche Dadavon habe ich noch nichts gehört (oder Da hab ich noch nichts davon gehört) und viele Norddeutsche Da habe ich noch nichts von gehört.
- Solche Erkenntnisse über den konkreten Sprachgebrauch sind, sobald sie gut genug abgesichert sind, die wichtigsten Anhaltspunkte für eine wissenschaftlich fundierte Weiterentwicklung von Grammatiken und Schulbüchern.
- Die wichtigste Erkenntnis ist allerdings, dass für ein geschlossenes Raumbild und eine aussagekräftige Datengrundlage noch viele engagierte Sprecher/innen nötig sind, die es durch eine Teilnahme an unseren fünf Fragebögen möglich machen, die (weitere) Entwicklung der deutschen Sprache zu erforschen.
Mitmachen und weitersagen
Haben wir Ihr Interesse geweckt, an unserer Erhebung zum regionalen Satzbau teilzunehmen? Dann folgen Sie diesem Link
und nehmen Sie an einer oder allen fünf Erhebungsrunden teil.
Wir würden uns auch freuen, wenn Sie andere auf unsere Erhebung aufmerksam machen würden. Schicken Sie den Link per Mail, WhatsApp und andere Messenger an Ihre Familie, Freunde und Bekannten. Der folgende Link führt Sie zum Flyer der Erhebung.
Gerne senden wir Ihnen auch ein Flyerpaket (s. Kontakt). Wir wären Ihnen sehr dankbar für Ihren Beitrag!
Links im Überblick
Der „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ von Georg Wenker ist vollständig digitalisiert und kann über das REDE SprachGIS eingesehen werden.
https://survey.online.uni-marburg.de/rede/
Die Erhebung zum regionalsprachlichen Satzbau besteht aus fünf Fragebogenrunden.
https://regionalsprache.de/mitmachen-ergebnisse.aspx
Die Webseite präsentiert weitere Ergebnisse der Erhebung. Hier finden Sie auch eine Literaturliste zu den bisher publizierten Ergebnissen.
Kontakt
Sie haben Fragen zu der Umfrage? Schreiben Sie uns gerne eine E‑Mail: kontakt@regionalsprache.de
Literatur
Fischer, Hanna/Hofmann, Katja (2019): Regionalsprachlich bedingte Zweifelsfälle – Chancen und Herausforderungen für den Deutschunterricht. In: Schmitt, Eleonore/Szczepaniak, Renata/Annika Vieregge (Hrsg.): Zweifelsfälle: Definition, Erforschung, Implementierung. Hildesheim: Olms. (Germanistische Linguistik 244–245), 351–383.
Jäger, Agnes (2018): Vergleichskonstruktionen im Deutschen: Diachroner Wandel und synchrone Variation. Zugl. überarb. Fassung v. Univ. Köln Habil. 2016. Berlin/Boston: de Gruyter.
Kasper, Simon/Pheiff, Jeffrey (2018): Morphosyntax der Regionalsprachen (Forschungsnotiz). In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 47(1), 249–253.
Pheiff, Jeffrey/Kasper, Simon (2020): Syntaktische Variation „oberhalb“ des Dialekts? Die Erhebung der regionalsprachlichen Syntax des Deutschen: horizontal, indirekt, vertikal und online. Niederdeutsches Wort 60, 35–87.
Kasper, Simon/Pheiff, Jeffrey (i. Ersch.): From dialect syntax to regional Language syntax. Syntactic variation between dialect and standard. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik.
Schmidt, Jürgen Erich/Herrgen, Joachim/Kehrein, Roland/Lameli, Alfred (Hrsg.) (2008ff.): Regionalsprache.de (REDE). Forschungsplattform zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen. Teil 7: Erhebung der regionalsprachlichen (Morpho-)Syntax. Bearbeitet von Simon Kasper und Jeffrey Pheiff. Unter Mitarbeit von Robert Engsterhold. Studentische Hilfskräfte. Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas.
Diesen Beitrag zitieren als:
Fischer, Hanna/Kasper, Simon/Pheiff, Jeffrey. 2022. Wenn Thomas “größer wie” sein Bruder ist. Regionale Variation im Satzbau. Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 2(3). https://doi.org/10.57712/2022-03.