„Wie heißt du und wie nennst du dich?“ – Hausnamen in Mittelhessen

Katasterkarte von Großseelheim, um 1755 (aus Block et al. 2016)

Was sind Hausnamen?

In vielen Regionen Deutsch­lands gibt es auf dem Dorf ganz besondere Namen: die Hausnamen (auch Dorfnamen oder Hofnamen genannt). Will man über einen Bekannten aus dem Dorf sprechen, so bezeich­net man ihn nicht mit dem Famili­en­na­men (Müller, Wolf, Schultz), sondern mit dem sogenann­ten Hausnamen (Zellersch, Wisskeb­jes, Buchben­nersch). So könnte jemand, der Heinrich Dörr heißt, im Dorf Verwäl­täsch Hein genannt werden. Man unter­schei­det also, wie man heißt (Vorname), wie man sich nennt (Hausname) und wie man sich schreibt (Famili­en­na­me). Kennt man den Hausnamen, weiß man zugleich, wo jemand wohnt und zu welcher Familie die Person gehört. Während die offizi­el­len Famili­en­na­men im Perso­nal­aus­weis stehen, sind die Hausnamen inoffi­zi­ell und werden nur in der mündli­chen Kommu­ni­ka­ti­on in der Dorfge­mein­schaft verwendet.

Wo kommen die Hausnamen her?

Viele Hausnamen sind sehr alt und können bis in das 16. Jahrhun­dert zurück­ver­folgt werden. Sie sind in der Regel aus den Namen der Erbauer oder Bewohner/innen des Hauses entstan­den. Manche Hausnamen gehen auf Vornamen früherer Bewohner/innen zurück: Goitteus kommt von Gotthard, Kaspersch von Casper. Andere speisen sich aus Famili­en­na­men: z.B. Deise (von: Adam Theiß), Liewersch (von: Adam Löber). Oft handelt es sich bei den Hausnamen auch um Berufs­be­zeich­nun­gen: Buchben­nersch (= ‘Buchbin­der’), Zollbrei­ersch (= ‘Zollbe­rei­ter’). Auch der Standort des Hauses kann sich in den Namen wider­spie­geln: Schloag­lo­se (= ‘am Schlag­baum’), Gasse (= ‘in der Gasse’). Die Namen gehen in der Regel auf alle Bewohner/innen der Häuser über und werden über Genera­tio­nen vererbt. Aus sozial­his­to­ri­scher Perspek­ti­ve wird deutlich, dass mit diesen Namen auf die Einheit von Haus und allen Bewohner/innen referiert wurde, also die vorin­dus­tri­el­len Sozial­ge­mein­schaf­ten, die alle verwand­ten und nicht verwand­ten Mitglie­der eines Haushalts bzw. Hofes umfassten.

Wofür wurden die Hausnamen gebraucht?

Bei der Bezug­nah­me auf eine Person konnte in Dörfern mit den offizi­el­len Namen lange keine eindeu­ti­ge Identi­fi­zie­rung (Monore­fe­renz) gewähr­leis­tet werden: Es gab einfach zu viele Johan­nes­se, Annas, Elisa­beths und Heinrichs. Auch die Famili­en­na­men kamen in den Dörfern mehrfach vor. So konnte es vorkommen, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt mehrere Personen in einem Dorf lebten, die die gleiche Kombi­na­ti­on aus Vor- und Famili­en­na­men trugen. Es wurden also andere Namen zur Identi­fi­zie­rung benötigt: Hausnamen! Mit ihnen wurde innerhalb eines Dorfes Monore­fe­renz herge­stellt und zugleich konnte man die benannten Personen im komplexen Sozial­sys­tem der Dorfge­mein­schaft verorten.

Was macht die Hausnamen für die Sprachwissenschaft interessant?

Die Forschung zu Hausnamen lässt sich als Teilge­biet der Onomastik (Namenforschung) fassen. Erforscht wird sowohl deren Entste­hung als auch die Frage, wie sich diese Namen gramma­tisch verhalten. Der Fokus liegt dabei häufig auf der Form, besonders dem Namen­kör­per: In Hausnamen können alte dialek­ta­le Formen, wie etwa Genitive, konser­viert werden. In den mittel­hes­si­schen Hausnamen Beickersch (von Famili­en­na­me Bäcker) und Rennerts (von Famili­en­na­me Rinnert) kann man noch das Genitiv-s erkennen, das es im Dialekt heute nicht mehr gibt.

Nach Theresa Schweden kommt den Hausnamen auch eine besondere sozio­prag­ma­ti­sche Funktion zu, indem diese „Insider- oder Outsi­der­sta­tus“ innerhalb einer dörfli­chen Kommu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaft markieren können (Schweden 2019: 134). Hausnamen gibt es nur für „altein­ge­ses­se­ne“ Personen. Durch die Verwen­dung von Hausnamen weisen Sprecher/innen nicht nur die Referenz­per­son, sondern auch sich selbst und den Gesprächs­part­ner als Mitglie­der einer dörfli­chen „Ingroup“ aus. Alle Kommunikationspartner/innen müssen die familiale Struktur innerhalb des Dorfs kennen, damit die Referenz gelingt. In der Dorfge­mein­schaft ist die Verwen­dung der Hausnamen also auch ein Zeichen dafür, dass man sich auskennt und dazugehört.

Warum erforschen wir die Hausnamen am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas?

In unserem Projekt beschäf­ti­gen wir uns mit der Dynamik des Hausnamen-Referenzsystems. Da sich die Rahmen­be­din­gun­gen seit der Entste­hung der Hausnamen stark verändert haben, werden die Hausnamen heute nicht mehr benötigt, um Monore­fe­renz herzu­stel­len. Zur eindeu­ti­gen Identi­fi­zie­rung von Personen nutzen wir heutzu­ta­ge die offizi­el­len Familiennamen.

Für die heutige Zeit ist daher immer wieder zu lesen, dass das System der Hausnamen seit Mitte des 20. Jahrhun­derts abgebaut werde. Zurück­ge­führt wird dies vor allem auf den starken Wandel der Dörfer durch „Zuzug von Personen, die nicht der abgeschlos­se­nen dörfli­chen Kommu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaft angehören“ sowie den „damit verbun­de­nen Dialekt­ab­bau“ (Schweden 2021: 123). Im Allge­mei­nen gelten Hausnamen als „Folklore“, die mit der Alltags­pra­xis in Dörfern gegen­wär­tig nichts (mehr) zu tun habe: In vielen Dörfern werden heute Schilder mit den alten Hausnamen an Häusern angebracht, um diese Namen nicht in Verges­sen­heit geraten zu lassen (für Beispiele aus unserem Untersuchungsort Großseelheim siehe Abb. 1 und 2).

Abb. 2: Schild „Hamersch Hob“ in Großseel­heim (Foto: Hanna Fischer)

Wie lebendig sind die Hausnamen in Großseelheim?

Um mehr über die heutige Bekannt­heit und den Gebrauch der alten dörfli­chen Hausnamen heraus­zu­fin­den, haben wir eine Frage­bo­gen­stu­die im mittel­hes­si­schen Dorf Großseel­heim durch­ge­führt, das in einem Übergangs­ge­biet zwischen dem zentral- und dem nordhes­si­schen Dialekt­raum liegt. Neben der Frage, wie geläufig Hausnamen in Großseel­heim noch sind, inter­es­siert uns, durch welche sprach­li­chen und außer­sprach­li­chen Faktoren deren Abbau gesteuert wird. Die in unserer Umfrage präsen­tier­ten Hausnamen basieren auf einer Sammlung der Lokal­his­to­ri­ker Heinrich Block, Hans-Georg Schröder und Dr. Herbert Schröder, in der die alten Hausnamen auf dem Stand des 18. Jahrhun­derts dokumen­tiert sind. Wir bedanken uns an dieser Stelle sehr herzlich für die Bereit­stel­lung! Auch die Beispiele in diesem Text stammen zum großen Teil aus der umfang­rei­chen Sammlung, ebenso wie die oben abgebil­de­te Katas­ter­kar­te von Großseelheim.

Wir haben uns in unserer Studie auf die Häuser beschränkt, die um 1755 den Dorfkern in Großseel­heim bildeten. Für einige dieser Häuser gab es im Laufe der Zeit verschie­de­ne Namen. Abgefragt wurden insgesamt 74 Hausnamen, wobei die Teilnehmer/innen angeben konnten, ob sie die entspre­chen­den Namen noch kennen und ob sie die Namen mit einer bestimm­ten Person verbinden. Neben sozio­de­mo­gra­phi­schen Daten wie dem Geburts­jahr und der sozialen Integra­ti­on und Vernet­zung im Dorf haben wir auch sozio­lin­gu­is­ti­sche Daten (die Einschät­zung von Dialekt­kom­pe­tenz und Dialekt­ge­brauch im Alltag) unserer Teilnehmer/innen abgefragt. Erhoben wurden diese Daten über eine Online-Umfrage (Bildschirm­auf­nah­men der Umfrage siehe Abb. 3).

Wer hat an der Umfrage teilgenommen?

Zum Zeitpunkt der Auswer­tung hatten 167 Personen den Frage­bo­gen vollstän­dig bearbei­tet. Das entspricht rund 8% der Bewohner/innen Großseel­heims. Bei einem Blick auf die Teilnehmer/innen wird deutlich, dass wir mit unserer Studie haupt­säch­lich ortsfeste und gut vernetzte Großseelheimer/innen erreicht haben:

Unsere Teilnehmer/innen sind durch­schnitt­lich 49 Jahre alt, in Großseel­heim aufge­wach­sen (77%), wohnen auch aktuell dort (82%) und haben im Schnitt 67% ihres Lebens im Dorf verbracht. Sie sprechen nach eigenen Angaben das alte Großseel­hei­mer Platt (77%) und verwenden den Ortsdia­lekt regel­mä­ßig im Alltag. Sie sind zudem sehr gut in die Dorfge­mein­schaft integriert, was sich auch an der Zahl ihrer Bekannt­schaf­ten im Dorf zeigt: Sie schätzen, im Dorf mehr als 200 Personen zu kennen.

Großseelheimer Hausnamen stabiler als gedacht!

Die Ergeb­nis­se der Studie sind erstaun­lich: Unsere Teilnehmer/innen kannten durch­schnitt­lich 65% der abgefrag­ten Hausnamen und assozi­ier­ten im Schnitt 50% der abgefrag­ten Namen mit einer bestimm­ten Person. Die Bekannt­heit der Namen nimmt zwar über die Genera­tio­nen ab (siehe Abb. 4: Bekannt­heit der Hausnamen und zugehö­ri­ger Referenz­per­so­nen), aller­dings können die Hausnamen in Großseel­heim insgesamt als gut bekannt und aktiv im Gebrauch bewertet werden. 

Abb. 4: Bekannt­heit der Hausnamen und zugehö­ri­ger Referenz­per­so­nen nach Geburts­jahr, n=165

Im Schnitt gaben 83% unserer Teilnehmer/innen an, selbst noch Hausnamen zu verwenden. Setzt man dies mit der subjek­ti­ven Dialekt­kom­pe­tenz (Abfra­ge­kon­text: Sprechen Sie das alte Großseel­hei­mer Platt, das sich deutlich von Ihrem Hochdeutsch unter­schei­det?) in Verbin­dung, wird deutlich, dass die ursprüng­lich dialek­ta­len Namen auch unter den Großseelheimer/innen Verwen­dung finden, die nach eigenen Angaben keinen Dialekt sprechen (siehe Abb. 5: Verwen­dung von Hausnamen) . 

Abb. 5: Verwen­dung von Hausnamen nach Dialekt­kom­pe­tenz (Selbst­ein­schät­zung), n=163

Unser vielleicht überra­schends­tes Ergebnis besteht darin, dass 107 unserer 167 Teilnehmer/innen angaben, dass sie selbst noch einen Hausnamen tragen. Dabei handelte es sich um insgesamt 60 unter­schied­li­che Namen, von denen 27 auch in unserem Frage­bo­gen enthalten waren. Erstaun­lich war vor allem, dass über alle Genera­tio­nen hinweg mehr Teilnehmer/innen angaben, einen Hausnamen zu tragen, als keinen Hausnamen zu tragen.

Stabile Ortsgemeinschaften schützen die Hausnamen vor Abbau 

Nach Lesley Milroy lässt sich durch Netzwerk­ana­ly­sen erklären, warum sich in bestimm­ten sozialen Gruppen und Kommu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaf­ten lingu­is­ti­sche Systeme erhalten, die in Opposi­ti­on zu einer etablier­ten, anerkann­ten Norm stehen (vgl. Milroy/Gordon 2003: 118). In unserem Fall sind dies die Systeme der inoffi­zi­el­len Hausnamen gegenüber den offizi­el­len Famili­en­na­men. Nach Milroy wird Sprach­wan­del gehemmt in Gemein­schaf­ten, die sich durch engma­schi­ge und sich überschnei­den­de Netzwerke auszeich­nen (vgl. Milroy/Gordon 2003: 129). Eben das scheint sich anhand unserer Daten zu Großseel­heim zu zeigen: Einem Dorf, das sich zwar durch Zuzug verändert, in dem es aber noch immer eine eng vernetzte dörfliche Gemein­schaft gibt, in der die Hausnamen weiterhin gebräuch­lich sind.

Abb. 6: Ortsschild unseres Unter­su­chungs­orts Großseel­heim (Foto: Hanna Fischer)

Hausnamen in Großseelheim keine Folklore

Im Rahmen unserer apparent-time-Studie in Großseel­heim zeichnet sich ein Abbau der alten Hausnamen von Genera­ti­on zu Genera­ti­on ab. Dabei scheint der Dialekt­ab­bau dem Abbau des Hausnamen-Referenzsystems voraus­zu­ge­hen. Aller­dings zeigt sich auch, dass Bekannt­heit und Gebrauch von Hausnamen – zumindest bei der hier erhobenen dörfli­chen „Ingroup“ – noch immer erstaun­lich lebendig sind. Es scheint sich hierbei in Großseel­heim keines­wegs um Folkore zu handeln: Die Hausnamen gehören zum kommu­ni­ka­ti­ven Alltag der altein­ge­ses­se­nen Dorfbewohner/innen.

Mitmachen

Sie wohnen in Großseel­heim oder kennen Personen aus Großseel­heim? Gerade haben wir unsere zweite Umfrage zu den Hausnamen in Großseel­heim gestartet. Machen Sie gerne mit oder senden Sie den Link zur Umfrage an Ihre Bekannten:

Zur aktuellen Umfrage: uni-marburg.de/WhbH9
Zur ersten Umfrage: uni-marburg.de/kThra

Weitere Infor­ma­tio­nen finden Sie auf unserer Projekthomepage: 

uni-marburg.de/LuNqJ

Literatur

Block, Heinrich / Schröder, Hans-Georg / Schröder, Herbert (2016): Alte Hausnum­mern mit Familien in Großen Seelheim ab dem Jahre 1650. Band 1. Die Hausnum­mern von 1–72. Bis Okt. 1777.

Debus, Friedhelm (2013): Hausnamen. In: Beiträge zur Namen­for­schung 48, S. 139–163.

Milroy, Lesley / Gordon, Matthew (2003): Socio­lin­gu­i­stics. Method and inter­pre­ta­ti­on. Malden: Blackwell. DOI: https://doi.org/10.1002/9780470758359

Milroy, James / Milroy, Lesley (1985): Lingu­i­stic change, social network and speaker innova­ti­on. In: Journal of lingu­i­stics 21, S. 339–384. DOI: https://doi.org/10.1017/S0022226700010306

Milroy, Lesley / Milroy, James (1992): Social network and social class: Toward an integra­ted socio­lin­gu­i­stic model. In: Language in Society 21(1), S. 1–26. DOI: https://doi.org/10.1017/S0047404500015013

Nübling, Damaris / Fahlbusch, Fabian / Heuser, Rita (2015): Namen. Eine Einfüh­rung in die Onomastik. 2., überar­bei­te­te und erwei­ter­te Auflage. Tübingen: Narr.

Schweden, Theresa (2019): Möllers Karl, Schulten Mama und Schmid­ten­buur: Sozio­prag­ma­tik der Perso­nen­re­fe­renz im Nieder­deut­schen synchron und diachron. In: Namen­kund­li­che Beiträge zum Nieder­deut­schen (ZDL 86/2), S. 134–154. DOI: https://doi.org/10.25162/zdl-2019-0004

Schweden, Theresa (2021): Zwischen Toponym und Anthro­ponym. Ein topono­masti­scher Ansatz zur Analyse dörfli­cher Hausnamen als geogra­phi­sches Referenz­sys­tem. In: Dräger, Kathrin / Heuser, Rita / Prinz, Michael (Hg.): Toponyme. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 109–127. DOI: https://doi.org/10.1515/9783110721140-006

Diesen Beitrag zitieren als:

Fischer, Hanna; Krapp, Maria Luisa und Zonker, Nikolas. 2021. „Wie heißt du und wie nennst du dich?“ – Hausnamen in Mittel­hes­sen. Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 1(12). https://doi.org/10.57712/2021-12.

Hanna Fischer, Maria Luisa Krapp und Nikolas Zonker
Privatdozentin Dr. Hanna Fischer ist im Akademieprojekt Regionalsprache.de des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Dialektologie und Regionalsprachenforschung des Deutschen. Maria Luisa Krapp ist am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Regionalsprache.de tätig. Nikolas Zonker ist Student im Master-Studiengang Linguistik: Kognition und Kommunikation und hat am Hausnamen-Projekt im Rahmen eines Methodenpraktikums mitgearbeitet.