800 Jahre Dialekt in Marburg

Wie man in Marburg vor 800 Jahren gespro­chen hat, kann man nur vermuten. Uns liegen keine Quellen vor, die uns einen direkten Einblick in die gespro­che­ne Sprache vermit­tel­ten. Doch nach allem, was wir heute über die Entwick­lung des Deutschen wissen, dürften die heutigen Dialekte dem damaligen Sprach­stand einiger­ma­ßen nahe kommen, wenn sie auch kein konse­quen­tes Abbild liefern. Es könnte also gut sein, dass ein Satz des Typs merr sey mäure enn hu Doscht (wir sind müde und haben Durst), wie er aus Wehrda überlie­fert ist oder ois Berj sei net sihr huk, au sei viel hiher (unsere Berge sind nicht sehr hoch, eure sind viel höher) aus Altenvers schon zur Zeit der Stadt­grün­dung verstan­den worden wäre. Ob die Menschen damals aller­dings auch genau so gespro­chen haben, lässt sich schwer sagen. 

Einiges ist immerhin rekon­stru­ier­bar und der einfachs­te Weg zu einer solchen Rekon­struk­ti­on ist eine Verortung der Marburger Sprach­land­schaft auf Grundlage der ältesten sprach­räum­li­chen Grenzen, die uns heute bekannt sind. Übrigens wurde ausge­rech­net in Marburg mit dem Deutschen Sprach­at­las der Grund­stein für eine solche Rekon­struk­ti­on gelegt. Aus dem dort enthal­te­nen Material wird für die weitere kurze Beschrei­bung – wenn nicht anders ausge­wie­sen – auf eine Dialekt­do­ku­men­ta­ti­on aus Marburg-Weidenhausen und eine weitere aus der Ketzer­bach zurück­ge­grif­fen. Auch die Belege aus Wehrda und Altenvers stammen aus diesem Material, das den Sprach­stand um 1880 dokumen­tiert (einzu­se­hen unter http://www.regionalsprache.de). Von dort aus lässt sich auf die früheren Jahrhun­der­te zurückblicken. 

Sprachgeographische Einordnung

Zu sagen, in Marburg spricht man Hessisch, wird der Sache nicht gerecht. Wurden in älteren Dialekt­ein­tei­lun­gen tatsäch­lich mehrere der in Hessen angesie­del­ten Dialekte zusam­men­ge­fasst, so hat sich inzwi­schen die Einsicht durch­ge­setzt, dass Hessen mehrere Sprach­grup­pen behei­ma­tet, darunter das Osthes­si­sche, das Rhein­frän­ki­sche und das Nordhes­si­sche. Marburg zählt zum vierten Sprach­raum (von den im nördlichs­ten Teil Hessens angesie­del­ten nieder­deut­schen Dialekten soll hier abgesehen sein), dem Zentral­hes­si­schen, an dessen nördli­cher Grenze es liegt. Dieses Zentral­hes­si­sche (mitunter auch als Mittel­hes­sisch bezeich­net) lässt sich sprach­lich recht gut bestimmen. 

Zunächst einmal haben die hiesigen Dialekte an der sog. Hochdeut­schen Lautver­schie­bung (auch Zweite Lautver­schie­bung genannt) teilge­nom­men, d. h. sie haben einige der ehemals germa­ni­schen Konso­nan­ten aufge­ge­ben und Sprach­for­men angenom­men, wie sie im gesamten mittel- und süddeut­schen Raum zu finden sind. Zu beachten ist, dass die Aufgabe des germa­ni­schen Konso­nan­tis­mus – anders als in den südlichen Regionen des deutschen Sprach­raums – im Zentral­hes­si­schen nur teilweise erfolgte. So bestehen in der erwähnten Dokumen­ta­ti­on von Weiden­hau­sen lautver­scho­be­ne Formen des Typs wos (= hochdeutsch was vs. nördli­ches wat, vgl. englisch what), äch (= ich vs. ik/ek) oder Läffel (= Löffel vs. läpel) neben Formen des Typs Pond (Pfund), Äppel (Äpfel), Kopp (Kopf). Da die zweite Lautver­schie­bung im Laufe des Frühmit­tel­al­ters abgeschlos­sen war, wird man davon ausgehen dürfen, dass zur Zeit der Stadt­grün­dung eine wie hier beschrie­be­ne Variation vor Ort zu hören gewesen ist, also z. B. germa­ni­sches p neben hochdeut­schem pf/f. Bisweilen sind sogar alte und neue Formen im selben Wort zu finden, wie in Peffer, wo germa­ni­sches p und hochdeut­sches f begegnen. Auch das dürfte dem hochmit­tel­al­ter­li­chen Sprach­stand entspre­chen. Eine Kennform des Vokalis­mus findet sich im Wort Brourer (Bruder), das westlich mit -o- (z. B. Brorer im Sieger­land), nördlich und östlich mit -u- begegnet (z.B. Brurer in Wetter oder Brurrer in Kirtorf), weswegen die Einord­nung des -ou- entweder als histo­ri­sche Annähe­rung eines älteren -o- an jüngeres -u- naheliegt oder aber eine sprach­geo­gra­phi­sche Ausgleichs­form zwischen diesen Lauten besteht. Das Alter dieses Doppel­lauts ist jeden­falls ungesichert. 

Darüber hinaus lassen sich weitere stabile Merkmale identi­fi­zie­ren, die hier nicht einmal im Ansatz erschöp­fend darge­stellt werden können. Stell­ver­tre­tend sei auf das Perso­nal­pro­no­men he (er) verwiesen, das ebenfalls auf germa­ni­sche Zeit zurück­geht (s. Sprach­spu­ren 1(1)). In der Formen­bil­dung ist die Verwen­dung eines Endungs-nin der 1. P. Sg. bemer­kens­wert: äch schloan (ich schlage, s. o.), äch verstinn (ich verstehe, Ketzer­bachächv‘rstihn). In diesem Zusam­men­hang ist auch auf das durch Verwen­dung unter­schied­li­cher Wortfor­men (sog. Supple­ti­on) gebildete Hilfsverb sein zu verweisen, das im Dialekt z. B. in der 1. P. Sg. mit einem anderen Wortstamm gramma­ti­ka­li­siert wurde: äch sein (ich bin), der auch für die 1. P. Pl. gilt: m’r sein (wir sind). Das zweite Hilfsverb haben fällt hingegen durch eine verkürzte Form äch hun auf (ich habe, Ketzer­bach: äch hau), die histo­risch, und so vermut­lich auch vor 800 Jahren, mit Langvokal (evtl. auch â) gebildet wurde. Solche Formen, die häufig bis in die vorchrist­li­che Zeit zurück­rei­chen, sind aus alt- und mittel­hoch­deut­schen Quellen wohlbe­kannt und für westmit­tel­deut­sche Dialekte nicht ungewöhn­lich. Erst aus der spezi­fi­schen Kombi­na­ti­on solcher Phänomene ergibt sich die indivi­du­el­le Beson­der­heit der einzelnen Dialekte. 

Historische Veränderung

Die auffal­len­de Stabi­li­tät der genannten Sprach­phä­no­me­ne heißt aber nicht, dass alle im 19. Jh. nachweis­ba­ren und auch heute noch zu findenden dialek­ta­len Merkmale sich im Laufe der Zeit nicht verändert hätten. Ganz im Gegenteil haben sich über die Jahrhun­der­te hinweg auch neue dialek­ta­le Phänomene ausge­bil­det. Insbe­son­de­re die Lexik gilt als offen für Verän­de­rung. Kaum mehr bekannt dürften heute z. B. die Ausdrücke sein, die während der 1940er Jahre im Rahmen des Deutschen Wortat­las­ses, ebenfalls von Marburg aus, erhoben wurden: Gääst (Ziege; Ockers­hau­sen), Golle (Großmutter; Cappel), Käppche und Blättche (Ober- und Unter­tas­se; Ockers­hau­sen), nicht einmal Zehschmer­ze im Sinne von Zahnschmer­zen (Cappel) ist zu erwarten. Ob es diese Ausdrücke bereits vor 800 Jahren gab, ist abgesehen von Gääst, das schon im Frühmit­tel­al­ter belegt ist, eher unwahr­schein­lich, zumal es die Konzepte und Gegen­stän­de mitunter noch gar nicht gab. 

Daneben soll an dieser Stelle eine Beson­der­heit vorge­stellt werden, die ähnlich wie die Phänomene der histo­ri­schen Lautver­schie­bung, zu einer hohen Variation in den zentral­hes­si­schen Dialekten geführt hat: die sogenann­te Schwa-Apokope. Mit „Schwa“ wird ein nicht-akzentuierbarer Vokal in Vor- oder Endsilben eines Wortes verstan­den, der ziemlich genau in der Mitte des oralen Artiku­la­ti­ons­raums gebildet wird. Konkret handelt es sich um das auslau­ten­de ‑e wie im Wort Affe. Der Ausdruck „Apokope“ meint, dass dieses ‑e am Ende einzelner Wörter ausge­fal­len ist. So ist z. B. im Erhebungs­bo­gen aus Weiden­hau­sen zu lesen: Äch schloan däch gleich mettem Kochläf­fel im de Ohrn, du Aff! Aff ist es zudem, das aus der Ketzer­bach gemeldet wurde, also eine Form ohne -e wie sie auch für andere Dialekt­wör­ter in Marburg typisch ist: heit (heute), Fäiß (Füße), Gens (Gänse), Käi (Kühe). Histo­risch ist dieses Phänomen aber zumindest in Marburg noch nicht sehr alt. Die heute bekannten Quellen deuten an, dass der Prozess im 13. Jh. wohl im Süden Öster­reichs einge­setzt hat und dann über mehrere Jahrhun­der­te immer weiter nach Norden gewandert ist. In der Marburger Gegend dürfte er spätes­tens im 16. Jh. angekom­men sein. Doch auch hier ist wieder keine Einheit­lich­keit anzuset­zen. In den Erhebungs­bö­gen aus Weiden­hau­sen und der Ketzer­bach finden sich ebenfalls: uhne (ohne), kahle (kalte), mäire (müde), goure (gute), ahle (alteäch glohwe (ich glaube), neie (neue). Es sind dies also vorrangig Adjektive, womit ein Wortar­ten­un­ter­schied vorliegt. Aller­dings finden sich mit Bärschte (Bürste), Ohwe (Ofen) und Flasche (Bodälje in der Ketzer­bach) auch Substan­ti­ve mit ‑e, jedoch keine Plurale wie bei den zuerst genannten Beispie­len. Auf diese Weise sind die Verhält­nis­se also recht kompli­ziert und bis heute auch nicht vollstän­dig erschlos­sen. Die eigent­li­che Beson­der­heit besteht darin, dass schon wenige Kilometer nördlich die Beispiele des Typs Fäiß (Füße) mit ‑e begegnen (z. B. Fäise in Michel­bach oder Feuße in Wehrs­hau­sen), während einige der Beispiele des Typs mäire (müde) schon vor den Stadt­mau­ern ohne ‑e auftreten (z.B. moi in Cappel und Moischt). Mit anderen Worten hat der histo­ri­sche Prozess in der Marburger Gegend gestoppt, was letztlich zu einer geogra­phisch eng begrenz­ten Übergangs­si­tua­ti­on zwischen ­­‑e‑Erhalt und ‑e‑Schwund geführt hat. Für die Rekon­struk­ti­on der Stadt­spra­che vor 800 Jahren lässt sich aus den Beispie­len ableiten, dass wir für die damalige Zeit von einem vokali­schen Auslaut dieser Wörter ausgehen können. In vielen Fällen dürfte es sich auch schon um einen Schwa-Laut gehandelt haben. 

Ausblick

Wie es mit den Dialekten weiter­ge­hen wird, ist nicht schwer zu prognos­ti­zie­ren. Die Unter­schie­de, die noch im 19. Jh. zwischen Weiden­hau­sen und der Ketzer­bach wie oben angedeu­tet greifbar waren, sind selbst bei älteren Personen längst überformt. Nicht zu übersehen ist zudem, dass die Kinder und Jugend­li­chen schon länger nicht mehr im Dialekt sozia­li­siert werden. Zugleich lässt die Verwor­ren­heit, die sich aus den oben beschrie­be­nen Verhält­nis­sen in Teilen ergibt, erkennen: Einen Dialekt muss man in der Phase der allge­mei­nen Sprach­so­zia­li­sa­ti­on erwerben, man kann ihn im fortge­schrit­te­nen Alter nicht oder nur unter größter Anstren­gung fehler­frei erlernen. Umgekehrt bedeutet das Beherr­schen eines dialek­ta­len Systems eine eigene Sprach‑, besser: Mehrspra­chig­keits­kom­pe­tenz, die in ihrem sozialen aber auch kogni­ti­ven Wert nicht unter­schätzt werden darf und daher gesell­schaft­lich, v. a. aber politisch mehr Aufmerk­sam­keit verdient – und dringend benötigt. 

Immerhin ist der Abbau der Dialekte zumindest vorerst nicht gleich­be­deu­tend mit dem allge­mei­nen Verlust regio­na­ler Markie­run­gen im Sprechen. Es gibt durchaus Merkmale, die sich auch in jüngeren Perso­nen­krei­sen halten, man denke z. B. an Formen des Typs net für nicht, die Verwen­dung von Artikeln beim Perso­nen­na­men des Typs da ist die Maria vs. da ist Maria oder aber die Beson­der­heit des als in der Verwen­dung eines Tempo­ral­ad­verbs wie in samstags gehe ich als einkaufen. Unter solchen Äußerun­gen sind in unserer Gegend nicht selten Varianten zu finden, die sich originär auf die jüngere Stadt­spra­che Frank­furts zurück­füh­ren lassen. Das ist durchaus bemer­kens­wert, reichte doch der Einfluss Frank­furts sprach­his­to­risch nicht so weit nach Norden. 

Doch gibt es auch Klein­re­gio­na­les, das seine dialek­ta­le Herkunft nicht immer direkt offenbart. Als Zugezo­ge­ner fällt einem in Marburg (wie auch im Umland) ein diskurs­steu­ern­des hier auf. Es handelt sich dabei um eine Partikel, die verwendet wird, um z. B. in einem Gespräch eine thema­ti­sche Wendung herbei­zu­füh­ren: Hier! Ich geh‘ jetzt heim. Es liegt nahe, diese Form als Verweis auf einen Ort, z. B. den Standort des Sprechen­den, aufzu­fas­sen, womit man aber falsch läge. Was es damit auf sich hat, wird deutlich, wenn man das Lautsys­tem der Marburger Gegend in Betracht zieht. Dann wird deutlich, dass das dialek­ta­le i (z. B. biese) für hochdeut­sches ö steht (böse). Vor diesem Hinter­grund ist klar, dass hiereigent­lich die Befehls­form hör! meint (hochsprach­li­ches Lokal­ad­verb hier lautet dialektal übrigens häi). Es ist dies also eine originär dialek­ta­le Variante und formal mögli­cher­wei­se ein Relikt aus der frühesten Stadt­ge­schich­te vor rund 800 Jahren. Man kann davon ausgehen, dass sich diese histo­risch basis­dia­lek­ta­le Form auch in Zukunft noch halten wird, auch wenn den Leuten nicht klar sein dürfte, dass sie damit den Dialekt entlehnen. Wer auch immer in diese frühe Zeit hinein­hö­ren will, sollte den Weg aufs Land und den Kontakt mit den Menschen vor Ort suchen. Wer dann noch eigene Sprach­auf­nah­men umsetzen möchte, um das kultu­rel­le Erbe Dialekt vielleicht sogar für die nächsten 800 Jahre zu bewahren, sei an den Deutschen Sprach­at­las verwiesen. 

Anmerkung

Dieser Text wurde 2022 ursprüng­lich im Programm­buch zum Stadt­ju­bi­lä­um MR800 abgedruckt und nochmals im MR800 Blog veröffentlicht.

Diesen Beitrag zitieren als:

Lameli, Alfred. 2022. 800 Jahre Dialekt in Marburg. Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 2(7). https://doi.org/10.57712/2022–07.

Alfred Lameli
Alfred Lameli ist Direktor des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas und Professor für Germanistische Sprachwissenwissenschaft mit dem Schwerpunkt Regionalsprachenforschung an der Universität Marburg.