Die Benrather Linie ist keine syntaktische Grenze!

In der Dialekt­for­schung wurde die Syntax, wie jüngst in einem Sprachspuren-Beitrag von Hanna Fischer, Simon Kasper und Jeffrey Pheiff (2022) aufge­zeigt wurde, lange Zeit vernach­läs­sigt, unter anderem, weil man nicht glaubte, dass sprach­geo­gra­phisch relevante Unter­schie­de in syntak­ti­scher Hinsicht überhaupt existie­ren. Diese Ansicht kann heute als unbegrün­det zurück­ge­wie­sen werden, wie man etwa anhand der Dialekte, die im Bundes­land Hessen gespro­chen werden, zeigen kann. 

Das Projekt Syntax Hessischer Dialekte (SyHD)

Im Projekt „Syntax hessi­scher Dialekte“ (SyHD, 2010–2016) wurden im gesamten Bundes­land Hessen verschie­de­ne syntak­ti­sche Struk­tu­ren per Frage­bo­gen (bei über 700 Personen) bzw. in direkten Inter­views (bei über 150 Personen) syste­ma­tisch erhoben und ausge­wer­tet. Die Gewährs­per­so­nen waren zum Zeitpunkt der Frage­bo­gen und Inter­views durch­schnitt­lich über 70 Jahre alt und sie wohnten in Ortschaf­ten von ca. 500‑1500 Personen. Sie zeigen damit also einen Sprach­stand, wie er heute bei den jüngeren Genera­tio­nen in vielen Gebieten nicht mehr vorhanden sein dürfte und den man in der Mundart­for­schung als „basis­dia­lek­tal“ bezeich­net. Aus der Befragung ist unter anderem SyHD-atlas entstan­den (Fleischer et al. 2017). Dort sind die Resultate des Projekts in elektro­ni­scher Form publiziert.

Im SyHD-Projekt hat sich gezeigt, dass sich die im Bundes­land Hessen gespro­che­nen Dialekte in syntak­ti­scher Hinsicht nicht nur von der Standard­spra­che, sondern auch vonein­an­der deutlich unter­schei­den. So wird etwa in den Mundarten Osthes­sens eine gegenüber der Standard­spra­che „umgedreh­te“ Abfolge von Hilfsverb und Hauptverb verwendet: Hier ist die Abfolge ich weiß nicht, ob er einmal will heiraten, die auch in älteren Formen des Deutschen verbrei­tet war, möglich (s. Karte 1). Auf dieser Karte entspricht die Größe der Symbole der Anzahl der für den jewei­li­gen Ort sinnvoll beant­wor­te­ten Fragen. Je größer der Kreis, umso mehr Antworten liegen also vor. Es zeigt sich sehr deutlich, dass die „umgedreh­te“ Abfolge, die mit Rot symbo­li­siert wird, fast ausschließ­lich im Südosten des Bundes­lan­des, im Osthes­si­schen, verbrei­tet ist.

Karte 1: SyHD-Karte mit Verbalclustern

Aggregierung syntaktischer Daten

Im Rahmen des SyHD-Projekts wurden über hundert derartige Karten erarbei­tet. Es ist darum gar nicht einfach, sich einen Überblick über die einzelnen syntak­ti­schen Phänomene hinaus zu verschaf­fen. An dieser Stelle hilft eine relativ junge Teildis­zi­plin der Mundart­for­schung: die Dialek­to­me­trie. In der Dialek­to­me­trie werden Dialekt­da­ten quanti­fi­ziert und aggre­giert, um z.B. Aussagen über die Ähnlich­keit von Dialekten zu machen. Beim SyHD-Projekt kann man aus über hundert Dialekt­kar­ten zu unter­schied­li­chen Phäno­me­nen eine einzige Karte ableiten, die die wichtigs­ten Diffe­ren­zie­run­gen aufzeigt. Dabei ergibt sich ein inter­es­san­tes Resultat, das in der folgenden Karte mit einem in der Dialek­to­me­trie üblichen Verfahren visua­li­siert ist. Um die Resultate in einer Fläche darzu­stel­len, wurde um jeden dokumen­tier­ten Ortspunkt ein Polygon gezogen. Die Farbtöne in Karte 2 zeigen auf, welche Orte einander syntak­tisch besonders ähnlich oder unähnlich sind: je ähnlicher die Farbe, umso ähnlicher die syntak­ti­schen Strukturen.

Karte 2: Ähnlich­kei­ten syntak­ti­scher Daten (Polygo­nen­kar­te)

Für die Syntax der in Hessen gespro­che­nen Dialekte zeigen sich also deutliche areale Schwer­punk­te. Beispiels­wei­se tritt das Osthes­si­sche, das bei der „umgedreh­ten“ Abfolge der Verben bereits in Erschei­nung getreten ist, klar hervor (in roter Farbe in Karte 2). Die lange verbrei­te­te Vorstel­lung, dass syntak­ti­sche Struk­tu­ren keine arealen Unter­schie­de aufweisen, wird durch dieses Ergebnis – wie auch durch viele Karten zu Einzel­phä­no­me­nen – also ein weiteres Mal falsi­fi­ziert. Aller­dings scheinen die Grenzen bei genauerer Betrach­tung nicht ganz so klar zu sein, wie man dies aus anderen Dialekt­kar­ten kennt: So finden sich ähnliche Farbtöne zum Teil etwas weiter vonein­an­der entfernt, unter­bro­chen durch etwas weniger ähnliche Farben, gerade etwa im Norden von Hessen, wo Grün- und Blautöne einander häufig abwechseln.

Traditionelle Einteilung

Die tradi­tio­nel­len Eintei­lun­gen der deutschen Dialekte beziehen sich in der Regel auf lautliche Unter­schie­de. Am bekann­tes­ten ist die Klassi­fi­ka­ti­on anhand der Ergeb­nis­se der Zweiten Lautverschiebung, d.h. anhand der Entwick­lung der germa­ni­schen Plosive p, t und k: Anhand dieses Krite­ri­ums werden die nieder­deut­schen Dialekte (Zweite Lautver­schie­bung wurde nicht durch­ge­führt, etwa Tid, Water, maken, schlapen) von den hochdeut­schen (Zweite Lautver­schie­bung durch­ge­führt, etwa Zeit, Wasser, machen, schlafen) unter­schie­den. Bei vielen Wörtern mit einem germa­ni­schen Plosiv zeigt sich der exakt gleiche areale Verlauf, der so klar ist, dass er als eine Linie darge­stellt werden kann. Als „Benrather Linie“ (nach Benrath, einem Vorort von Düssel­dorf, wo diese Grenze im Westen verläuft) ist die Abgren­zung zwischen Nieder­deutsch und Hochdeutsch auch allgemein bekannt geworden. Für feinere Unter­tei­lun­gen werden – in der heute am weitesten verbrei­te­ten Eintei­lung von Peter Wiesinger – neben der zweiten Lautver­schie­bung auch vokali­sche Entwick­lun­gen herangezogen.

Für die Dialekte Hessens zeigt die folgende Darstel­lung in Karte 3, welche Dialekte verbrei­tet sind. Hier werden die Grenzen des Bundes­lands auf einen Ausschnitt aus der Dialekt­ein­tei­lungs­kar­te proji­ziert. Es zeigt sich, dass im Norden Hessens nieder­deut­sche (westfä­li­sche und ostfä­li­sche) Dialekte gespro­chen werden, im Zentrum mit dem Nordhes­si­schen, Zentral­hes­si­schen und Osthes­si­schen dann die „eigent­li­chen“ hessi­schen Dialekte, im Süden ist das Rhein­frän­ki­sche verbrei­tet. Auf dieser Karte ist die „Benrather Linie“ die Linie, die das West- und Ostfä­li­sche vom Nordhes­si­schen trennt.

Karte 3: Tradi­tio­nel­le Eintei­lung der Dialekte im Bundes­land Hessen nach Peter Wiesinger

Wenn man die tradi­tio­nel­le, vor allem auf lautli­chen Phäno­me­nen beruhende Dialekt­ein­tei­lung mit der aufgrund der syntak­ti­schen Ähnlich­keit erstell­ten Karte 2 vergleicht, zeigt sich, dass sich die Benrather Linie bei den syntak­ti­schen Daten gar nicht wieder­fin­det. In Bezug auf das Osthes­si­sche zeigen dagegen beide Karten ähnliche Bilder.

Neue Analyse der lautlichen Unterschiede

Entspricht nun aber Karte 3, die sich im Wesent­li­chen auf Daten des 19. und frühen 20. Jahrhun­derts stützt, auch noch dem aktuellen Stand? Die SyHD-Daten waren auf syntak­ti­sche Struk­tu­ren ausge­rich­tet und lassen somit keine direkte Antwort auf diese Frage erwarten. Aller­dings kann durch eine „Sekun­där­aus­wer­tung“ auch die lautliche Ebene erstaun­lich klar erfasst werden. Während die Mehrzahl der SyHD-Fragen durch einfaches Ankreuzen beant­wor­tet werden konnte, wurden insgesamt sieben Mal auch ganze Sätze aus der Standard­spra­che in den jewei­li­gen Dialekt übersetzt. Das folgende Beispiel zeigt dies für den Satz „Früher wohnten wir hinter der Kirche, aber dann bauten wir noch mal neben der Schule.“ In Ulrich­stein wurde dieser Satz etwa folgen­der­ma­ßen übersetzt (1). Schon in diesen wenigen Wörter zeigen sich zahlrei­che lautliche Merkmale des lokalen Dialekts, etwa bei der charak­te­ris­ti­schen Form hu ‘haben’ oder beim Ausfall von -e in Schul.

(1) Erst hu merr hinner de Kirch gewuhnt un dann hu merr bei die Schul nau gebaut.

Wie kann man nun aber derartige Überset­zun­gen in lautli­cher Hinsicht mitein­an­der verglei­chen? An dieser Stelle kommt ein in der Dialek­to­lo­gie bisher wenig verwen­de­tes Verfahren ins Spiel, die sog. n-Gramm-Analyse. n-Gramme sind Abfolgen von n lingu­is­ti­schen Einheiten wie Buchsta­ben, Wörter o.ä. Bei Sequenzen aus einem Buchsta­ben spricht man von Unigram­men, bei solchen aus zweien von Bigrammen und bei Sequenzen aus drei Buchsta­ben von Trigram­men. Wenn man aus einem Text – beispiels­wei­se aus Über allen Gipfeln ist Ruh – Buchstaben-n-Gramme erstellt, sieht das so aus:

UnigrammBigrammTrigramm
Ü,b,e,r, ‚a,l,l,e,n, ‚G,i,p,f,e,l,n, ‚i,s,t, ‚r,u,hÜb,be,er,r , a,al,ll,le,en,n , G,Gi,ip,pf,fe,el, ln,n , i,is,st,t , r,ru,uhÜbe,ber,er ‚r a, al,all,lle,len,en ‚n G, Gi,Gip,ipf,pfe, fel,eln,ln ‚n i, is,ist,st ‚t r, ru,ruh
Tabelle 1: Buchsta­ben n-Gramme

Solche Abfolgen lassen sich mithilfe des Computers einfach erstellen und auszählen. So verschafft man sich schnell ein Bild über häufige Buchsta­ben­kom­bi­na­tio­nen. Frequen­zen solcher Buchsta­ben­kom­bi­na­tio­nen können zwischen Dialekten vergli­chen werden. Idealer­wei­se bezieht man sich dabei auf den gleichen Ausgangs­text oder auf eine größere Materi­al­men­ge, da sonst die Vergleich­bar­keit nicht gewähr­leis­tet ist. Wenn Ähnlich­kei­ten solcher Buchsta­ben­kom­bi­na­tio­nen – hier werden Trigramme verwendet – zwischen einzelnen Orten mit dem gleichen Verfahren wie die syntak­ti­schen Ähnlich­kei­ten errechnet werden, ergibt sich folgendes Resultat (s. Karte 4).

Karte 4: Ähnlich­kei­ten von Buchsta­ben­kom­bi­na­tio­nen (Polygo­nen­kar­te)

In dieser Karte zeigen sich die tradi­tio­nel­len Dialek­t­räu­me in fast genau der Art und Weise wie in der tradi­tio­nel­len Dialekt­ein­tei­lungs­kar­te! Die nieder­deut­schen Dialekte (ohne zweite Lautver­schie­bung) erschei­nen gelb, das Nordhes­si­sche violett, das Zentral­hes­si­sche grün, das Osthes­si­sche rot und das Rhein­frän­ki­sche blau. Inter­es­sant sind auch die Übergangs­be­rei­che zwischen den Kernräu­men, etwa die Schwalm, die zwischen den verschie­de­nen Räumen steht. Auch in den tradi­tio­nel­len Dialekt­ein­tei­lun­gen ist gerade diese Landschaft häufig nicht eindeutig verortet.

Syntax ist anders

Das Inter­es­san­te an diesen Daten ist, dass sich auch zu Beginn des 21. Jahrhun­derts die bekannten dialek­ta­len Räume finden lassen. Aus diesem Vergleich ergibt sich übrigens auch eine schöne Validie­rung des im frühen 21. Jahrhun­dert erhobenen SyHD-Materials. In quali­ta­ti­ver Hinsicht finden sich aller­dings in den Trigramm-Daten viel deutli­che­re Räume als bei den Syntax-Daten. Weil beide Daten­sät­ze aus dem gleichen Fundus stammen (sie wurden bei den gleichen Personen zum gleichen Zeitpunkt erhoben), kann dieser Unter­schied nicht durch die Methode oder den Zeitpunkt der Erhebung bedingt sein. Somit lässt sich festhal­ten: Auch syntak­ti­sche Phänomene weisen deutliche areale Struk­tu­ren auf – aber diese areale Struk­tu­rie­rung ist doch in einer charak­te­ris­ti­schen Weise anders als die der lautli­chen Räume.

Inter­es­san­ter­wei­se lassen sich nun bei den syntak­ti­schen Daten in Hessen Nieder­deutsch und das angren­zen­de Hochdeut­sche nicht vonein­an­der unter­schei­den – die Benrather Linie ist also in Hessen keine syntak­ti­sche Grenze! Ob sich die syntak­ti­schen räumli­chen Muster in ähnlicher Weise auch bei anderen sprach­li­chen Phäno­me­nen – etwa dem Wortschatz – oder vielleicht sogar in außer­sprach­li­chen Entspre­chun­gen wieder­fin­den, ist eine spannende Frage für die zukünf­ti­ge Forschung.

Die hier vorge­stell­ten Resultate beruhen auf dem frei verfüg­ba­ren Aufsatz von Birkenes & Fleischer (2021). Daraus stammen die hier wieder­ge­ge­be­nen Karten und darin wird die verwen­de­te Methode genauer beschrieben.

Literatur

Birkenes, Magnus Breder & Jürg Fleischer. 2021.­ Syntactic vs. phono­lo­gi­cal areas: A quanti­ta­ti­ve perspec­ti­ve on Hessian dialects. Journal of Lingu­i­stic Geography 9: 142–161. https://doi.org/10.1017/jlg.2021.9

Fischer, Hanna, Simon Kasper & Jeffrey Pheiff. 2022. Wenn Thomas “größer wie” sein Bruder ist. Regionale Variation im Satzbau. Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 2(3). https://doi.org/10.57712/2022-03.

Fleischer, Jürg, Alexandra N. Lenz & Helmut Weiß. 2017. SyHD-atlas. Konzi­piert von Ludwig M. Breuer. Unter Mitarbeit von Katrin Kuhmichel, Stephanie Leser-Cronau, Johanna Schwalm und Thomas Strobel. Marburg/Wien/Frankfurt am Main. https://doi.org/10.17192/es2017.0003

Diesen Beitrag zitieren als:

Birkenes, Magnus Breder & Jürg Fleischer. 2022. Die Benrather Linie ist keine syntak­ti­sche Grenze! Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 2(9). https://doi.org/10.57712/2022-09.

Magnus Breder Birkenes und Jürg Fleischer
Magnus Breder Birkenes arbeitet an der Norwegischen Nationalbibliothek in Oslo mit den Schwerpunkten Sprachtechnologie und Forschungsinfrastruktur. Jürg Fleischer ist Professor und stellvertretender Direktor des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas.