Unserdeutsch und sein Präpositionalsystem

Bildbeschriftung

Unserdeutsch ist auch unter dem Namen Rabaul Creole German bekannt. Es entstand zu Beginn des 20. Jahrhun­derts auf einer katho­li­schen Missi­ons­sta­ti­on in Vunapope auf der Insel New Britain im heutigen Papua-Neuguinea.

Mit dem Ziel der Chris­tia­ni­sie­rung gründeten die Herz-Jesu-Missionare im ehema­li­gen Deutsch-Neuguinea eine deutsche Missi­ons­sta­ti­on. Dort wurden Kinder, die aus Bezie­hun­gen zwischen meist aus Europa oder Asien stammen­den Männern mit indigenen Frauen hervor­ge­gan­gen waren, adoptiert und in einer Inter­nats­schu­le nach europäi­schen Maßstäben erzogen. Ihr gesamtes soziales und später auch beruf­li­ches Leben konzen­trier­te sich auf die Missi­ons­sta­ti­on. So wurde den Kindern nach ihrer Adoption der Kontakt zu ihrer Familie verboten. Als Heran­wach­sen­de erhielten sie eine Berufs­aus­bil­dung in einem der Betriebe der Missi­ons­sta­ti­on und mit Erreichen der Volljäh­rig­keit wurden die meisten von ihnen unter­ein­an­der (zwangs-)verheiratet. 

Abb. 1: Unter­richt der Mixed-race-Kinder an der Missi­ons­schu­le Vunapope zu Beginn des 20. Jahrhun­derts, Quelle: Frings (2000, 112)

Nicht nur der soziale Umgang unterlag strengen Restrik­tio­nen, auch der Sprach­ge­brauch war streng geregelt und wurde bei Missach­tung bestraft. Die Haupt­ver­kehrs­spra­che Papua-Neuguineas Tok Pisin war den Kindern unter­ein­an­der verboten und diente ausschließ­lich zur Kommu­ni­ka­ti­on mit indigenen Arbeitern. Ziel der Missio­na­re war es, Deutsch als Haupt­spra­che zu etablie­ren. Um dieses Ziel zu erreichen, hatten die Kinder von Beginn an Deutsch­un­ter­richt und zur Verstän­di­gung mit den Missio­na­ren war ausschließ­lich Deutsch erlaubt. 

Sozial, beruflich und sprach­lich isoliert wuchsen die Kinder unter sich zu einer geschlos­se­nen Gemein­schaft zusammen. Unter­ein­an­der sprachen sie Unser­deutsch, die Sprache, die sich überwie­gend aus Tok Pisin und dem Deutsch­sprach­er­werb an der Mission entwi­ckel­te. Die Beispiele (1), (2) und (3) geben einen ersten Eindruck sowohl über die Sprache Unser­deutsch als auch über den Alltag auf der Missionsstation. 

(1)jeden ta du muss zu kirhe
‘du musst jeden Tag in die Kirche gehen’
(2)licht komm nu an von sechs zu neun
‘das Licht ist nur von 6 bis 9 Uhr angeschaltet’
(3)er war am arbeiten fi de store
‘er hat für den (Missions-)Supermarkt gearbeitet’

Die Präpositionen

Unser­deutsch besitzt insgesamt 43 Präpo­si­tio­nen. Davon haben 20 lokale, 12 temporale und 11 relatio­na­le Funktio­nen.1Die Termini und ihre Syste­ma­ti­sie­rung gehen auf Hagège (2010) zurück. In seiner Syste­ma­tik sind sämtliche Funktio­nen drei Domänen unter­ge­ord­net: der lokalen Domäne, der tempo­ra­len Domäne und der relatio­na­len Domäne. Funktio­nen in der relatio­na­len Domäne beschrei­ben die Art und Weise eines Verhält­nis­ses zweier oder mehrerer Bezugs­grö­ßen zuein­an­der. Ein Beispiel mit der standard­deut­schen Präpo­si­ti­on wegenWegen dir werde ich arm. Die Präpo­si­ti­on wegen stellt eine Relation zwischen den Bezugs­grö­ßen dir und arm-Werden her und beschreibt ihr Verhält­nis näher. In diesem Beispiel gibt wegen die Ursache für das arm-Werden an, nämlich dir. Nach der Syste­ma­tik von Hagège besitzt wegen hier relatio­na­le motiva­ti­ve Funktion. Grund­sätz­lich ist festzu­stel­len, dass sämtliche Präpo­si­tio­nen in Unser­deutsch phono­lo­gi­sche Adaptio­nen aus dem deutschen Super­strat sind. Die lautli­chen Struk­tu­ren der Adaptio­nen lehnen sich an die in Tok Pisin an (vgl. Linden­fel­ser / Maitz 2017: 7–8; Linden­fel­ser / Maitz 2018: 316).

In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Präpo­si­tio­nen aus dem standard­deut­schen Hochfre­quenz­be­reich (vgl. Duden Grammatik 2009, § 896, § 905–908). Von den 20 lokalen Präpo­si­tio­nen in Unser­deutsch sind die Hälfte phono­lo­gi­sche Adaptio­nen aus dem standard­deut­schen Hochfre­quenz­be­reich. Bei den lokalen Präpo­si­tio­nen wurden 7 von 12 aus dem standard­deut­schen Hochfre­quenz­be­reich adaptiert. Bei den relatio­na­len Präpo­si­tio­nen sind 9 von insgesamt 11 phono­lo­gi­sche Adaptio­nen aus dem standard­deut­schen Hochfrequenzbereich.

Abb. 2: Mixed-race-Kinder der Knaben­schu­le Vunapope zu Beginn des 20. Jahrhun­derts,
Quelle: DFG Magazin (2017)

Tabelle 1 gibt einen Überblick über das gesamte Präpositionen-Inventar in Unser­deutsch. In der mittleren Spalte sind alle unser­deut­schen Präpo­si­tio­nen angegeben. Die Fett-Markie­rung verdeut­licht, welche Präpo­si­tio­nen phono­lo­gi­sche Adaptio­nen aus dem standard­deut­schen Hochfre­quenz­be­reich sind. In der rechten Spalte ist das gesamte Inventar des standard­deut­schen Hochfre­quenz­be­reichs angegeben. Die Präpo­si­tio­nen sind alpha­be­tisch und nach Domänen sortiert gelistet. Eine ‚Domäne‘ ist eine seman­tisch überge­ord­ne­te Kategorie von weiter diffe­ren­zier­ba­ren Funktio­nen. Hierbei wird zwischen lokaler, tempo­ra­ler und relatio­na­ler Domäne unter­schie­den. Einige Präpo­si­tio­nen sind mehrfach zu finden, diese Präpo­si­tio­nen haben Funktion(en) in mehreren Domänen.

 Unser­deutschStandard­deutsch
lokalam, an, auf, bei, bis, drauf, drin, herum, hinten, im2Die PP im ist nur einmal in einem Chunk, d. h. innerhalb einer Sequenz, die als Ganzes lexika­lisch gespei­chert wurde, belegt. Sie wird im Ausruf oh mein gott im himmel verwendet und wurde von näheren Analysen ausge­schlos­sen. , in, nach, neben, oben, rund, über, unten, von, vor, zu, zuman, auf, aus, bei, bis, durch, gegen, in, nach, neben, über, um, unter, von, vor, zu, zwischen
temporal am, an, auf, bevor, bis, fi, in, nach, nachdem, von, vor, zuan, auf, aus, bei, für, gegen, mit, nach, über, um, von, vor, zu
relatio­nalauf, aus, dann, fi, gegen, in, mit, ohne, über, von, zuan, auf, aus, bei, bis, durch, für, gegen, in, mit, nach, über, um, unter, von, vor, zu
Tabelle 1: Präpositionen-Inventar in Unser­deutsch und standard­deut­sche Präpo­si­tio­nen im Hochfrequenzbereich

Präpo­si­tio­nen, die in Unser­deutsch besonders häufig verwendet werden, haben zudem weitge­hend die gleichen Funktio­nen wie ihre phono­lo­gi­schen Pendants im Standard­deut­schen. Nichts­des­to­we­ni­ger ist in Abgren­zung zum deutschen Super­strat eine Tendenz zum Funkti­ons­ab­bau deutlich erkennbar. Die Veran­schau­li­chung dieser Tendenz ist Inhalt des nächsten Abschnitts.

Funktionsabbau und funktionale Transparenz

Stellt man die Funktion(en) einer Präpo­si­ti­on in Unser­deutsch mit der ihres phono­lo­gi­schen Pendants im Standard­deut­schen gegenüber, wird eine Reduzie­rung auf eine der Domänen, das heißt entweder lokal oder temporal oder relatio­nal deutlich. Diese Beobach­tung ist vor allem bei weniger frequen­ten Präpo­si­tio­nen zu verzeich­nen. Standard­deut­sche Präpo­si­tio­nen hingegen zeichnen sich vor allem durch ihre Mulit­funk­tio­na­li­tät aus. Das heißt, in der überwie­gen­den Mehrheit hat eine standard­deut­sche Präpo­si­ti­on mehrere Funktio­nen in unter­schied­li­chen Domänen. 

Unser­deut­sche Präpo­si­tio­nen sind im Vergleich zu standard­deut­schen Präpo­si­tio­nen weitaus weniger multi­funk­tio­nal. Ihr Spektrum an Funktio­nen ist kleiner und ihre Funktion(en) dadurch eindeu­ti­ger. Diese funktio­na­le Trans­pa­renz lässt sich an den beiden unser­deut­schen Präpo­si­tio­nen am und an in einem Vergleich zur standard­deut­schen Präpo­si­ti­on an gut aufzeigen:

In Unser­deutsch sind am und an zwei eigen­stän­di­ge, vonein­an­der unabhän­gi­ge und funktio­nal getrennte Präpo­si­tio­nen. Am besitzt ausschließ­lich temporale Funktion und wird vor allem in Verbin­dung mit Tages­zei­ten und Wochen­ta­gen verwendet, vgl. Beispiel (4). An hingegen besitzt lokale Funktio­nen, vgl. Beispiel (5).

(4)a.dann am namitta die geht zurück zu hause
‘dann am Nachmit­tag gehen sie nach Hause zurück’
b.am sonnta i fliegen
‘am Sonntag fliege ich (mit dem Flugzeug)’
(5)a.wi war am leben an manam
‘wir lebten auf Manam’3Manam ist eine Insel nördlich von Neuguinea
b.uns alle geht an de pot
‘wir gingen alle auf den Nachttopf’

Im Standard­deut­schen ist am eine Variante der Präpo­si­ti­on an. Bei der Form am ist die Präpo­si­ti­on an mit dem definiten masku­li­nen Artikel im Dativ dem verschmol­zen: an dem = am. Ihre Funktio­nen sind durch die Präpo­si­ti­on an deter­mi­niert, das heißt am hat keine zusätz­li­chen oder von an verschie­de­nen Funktio­nen. Die standard­deut­sche Präpo­si­ti­on an besitzt vor allem lokale und temporale Funktio­nen. Als Wechsel­prä­po­si­ti­on regiert an mehrere Kasus: den Akkusativ und den Dativ. Mit der Verwen­dung eines der Kasus gehen wichtige Funkti­ons­un­ter­schie­de einher. So zeigt die Verwen­dung des Akkusa­tivs eine Bewegungs­rich­tung an (Frage: Wohin?, siehe Beispiel 6); während der Dativ auf fixe Orte oder Zeitpunk­te verweist (Fragen: Wo oder wann?, siehe Beispiel 7). Die Verwen­dung von an in Kombi­na­ti­on mit dem (Dativ) hat lokale und temporale Funktion. Bei Datums- und Zeitan­ga­ben ist die Verschmel­zung zu am aller­dings obliga­to­risch: am 31. März, am Jahres­en­de, am Vormittag (vgl. Duden Grammatik 2009, § 912, § 925).

(6)a.Wir schwimmen an das/ans Ufer. (Wohin schwimmen wir?)
b.Ich hänge das Bild an die Wand. (Wohin hänge ich das Bild?)
(7)a.Wir gehen an dem/am Ufer spazieren. (Wo gehen wir spazieren?)
b.Das Bild hängt an der Wand. (Wo hängt das Bild?)
c.Wir treffen uns am Freitag. (Wann treffen wir uns?)

Erkenntnisse

Die Gegen­über­stel­lung der Präpo­si­tio­nen am und an in Unser­deutsch mit der Präpo­si­ti­on an im Standard­deut­schen führt zu zwei Erkenntnissen: 

Erstens veran­schau­licht sie die Tendenz zur funktio­na­len Trans­pa­renz bei unser­deut­schen Präpo­si­tio­nen in Abgren­zung zu standard­deut­schen Präpo­si­tio­nen. Im Beispiel von am und an wird funktio­na­le Trans­pa­renz durch die Aufspal­tung unter­schied­li­cher Funktio­nen auf phono­lo­gisch verschie­de­ne Formen herge­stellt: am mit ausschließ­lich tempo­ra­ler Funktion und an mit ausschließ­lich lokalen Funktionen. 

Zweitens zeigt sich, dass sich Unser­deutsch bereits relativ bald nach der Ankunft auf der Missi­ons­sta­ti­on unter den Kindern entwi­ckelt haben muss. Die Tatsache, dass an und am als zwei vonein­an­der unabhän­gi­ge und funktio­nal verschie­de­ne Präpo­si­tio­nen fungieren, verdeut­licht, dass bei den Kindern (noch) kein sprach­li­ches Bewusst­sein darüber herrschte, dass es sich im Standard­deut­schen um ein und dieselbe Präpo­si­ti­on mit mehreren Funktio­nen handelt. Das heißt, Unser­deutsch ist zu einem Zeitpunkt entstan­den, zu dem noch keine elabo­rier­ten Deutsch-Kompetenzen erworben wurden.

Literatur

  • Duden Grammatik = Duden. Die Grammatik (82009), Mannheim u. a.
  • Hagège, Claude (2010): Adposi­ti­ons. New York. http://dx.doi.org/10.1093/acprof:oso/9780199575008.001.0001
  • Frings, Bernhard (2000): Mit ganzem Herzen. Hundert Jahre Missi­ons­schwes­tern vom Heiligs­ten Herzen Jesu in Hiltrup. Dülmen. 
  • Linden­fel­ser, Siegwalt / Péter Maitz (2017): The creolness of Unser­deutsch (Rabaul Creole German): A typolo­gi­cal perspec­ti­ve. In: Maitz, Péter / Craig A. Volker (Hg.): Language Contact in the German Colonies: Papua New Guinea and beyond (= Special issue of Language and Lingu­i­stics in Melanesia), 91–142.
  • Linden­fel­ser, Siegwalt / Péter Maitz (2018): Gespro­che­nes Alltags­deutsch im Bismarck-Archipel um 1900. Das Zeugnis regional markier­ter Substrat­ein­flüs­se in Unser­deutsch. In: Lenz, Alexandra N. / Albrecht Plewnia (Hg.): Variation – Normen – Identi­tä­ten. Berlin/Boston, 205–337.

Diesen Beitrag zitieren als:

Lipfert, Salome. 2021. Unser­deutsch und sein Präpo­si­tio­nal­sys­tem. Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 1(2). https://doi.org/10.57712/2021-02.

Salome Lipfert
Salome Lipfert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas und arbeitet dort im Projekt Regionalsprache.de.