„Veni, vidi, vici“ – wie würde dieser berühmte Spruch Cäsars auf gut Südtirolerisch lauten? Wahrscheinlich genau wie im Titel angeführt: „I bin kemmen, hon gsegn und hon gewunnen“.
Bevor sich jetzt jemand wundert, was diese geschichtsträchtigen Worte des römischen Feldherrn in den Sprachspuren verloren haben: Die inhaltliche Komponente spielt in der Wiedergabe dieses Zitats keine Rolle, vielmehr geht es darum, einen interessanten formalen Aspekt des hier verwendeten Dialekts, nämlich desjenigen meiner Heimatstadt Klausen in Südtirol, hervorzuheben: Die Realisierung des Präfixes ge im Partizip II.
Wie an der „Übersetzung“ dieser Äußerung erkennbar ist, kann das Präfix des Partizips II im genannten Dialekt nämlich auf unterschiedliche Arten realisiert werden.
Dabei drängen sich folgende Fragen auf: Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Warum heißt es also in Klausen kemmen und nicht gekemmen, warum gsegn und nicht gesegn? Und warum heißt es dennoch gewunnen? Ist das alles völlig undurchsichtig oder lassen sich bestimmte Regelmäßigkeiten erkennen? Und wie ist es eigentlich, wenn man das im Dialekt verschriftlichen will (was heutzutage ja in der Alltagskommunikation immer häufiger der Fall ist)? Treten Unterschiede zwischen der mündlichen Ausprägung und der Verschriftlichung desselben Dialekts auf? Hält man sich dabei stärker an der dialektalen oder an der standarddeutschen Ausformung? Das wollte ich wissen und habe ein kleines Forschungsprojekt im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck durchgeführt.
Wer war dabei? – ProbandInnen
Da Dialektverschriftlichung vor allem bei jüngeren Generationen eine Rolle spielt, waren zehn Personen im Alter von 17 bis 26 Jahren aus meinem Heimatort Klausen im Fokus. Es handelt sich dabei um engere Bekannte, die alle in Klausen aufgewachsen sind und mindestens bis zum Abschluss der Oberschule dort gelebt haben. Außerdem sind die Eltern der Proband*innen ebenfalls in Klausen aufgewachsen – die befragten Personen bilden also eine sehr homogene Gruppe und es ist davon auszugehen, dass sie aufgrund der genannten Umstände den „Klausner“ Dialekt sehr gut kennen.
Von den zehn Gewährspersonen wurden jeweils 15 Sätze erhoben, die ihnen als Word-Dokument via WhatsApp gesendet wurden, und sie wurden gebeten, diese Sätze jeweils mündlich und schriftlich in ihren Dialekt zu „übersetzen“.
Was wurde übersetzt? – Korpus
Es ist bekannt, dass die unterschiedlichen Realisierungen von ge- eng mit dem nachfolgenden Laut gekoppelt sind (vgl. Kranzmayer 1956: 85), weshalb die den ProbandInnen vorgelegten Sätze jeweils Wörter enthielten, in denen auf das Präfix ge- möglichst viele unterschiedliche Laute folgen, und zwar konkret Plosive (wie ge‑b/p/t/d/k/g), Frikative (wie ge‑s/w/f/h), Nasale (ge‑n/m), Laterale (ge‑l) und Vibranten (ge‑r). Bei der Zusammenstellung der Sätze habe ich mich an den Wenker-Sätzen orientiert. Im Sinne der Vergleichbarkeit wurde zwar darauf geachtet, dass sie nicht zu sehr von den originalen Wenker-Sätzen abweichen. Sie sollten aber trotzdem nicht zu veraltet wirken, weshalb sie teilweise etwas modifiziert wurden. Einige Sätze wurden außerdem komplett neu erfunden, damit möglichst alle oben genannten Laute nach ge- in ausreichender Anzahl vorkommen und dadurch eine ausgewogene Analyse durchführbar ist.
ge- + … | Plosiv | Frikativ | Nasal | Lateral | Vibrant | |
1 | Der alte Mann ist mit dem Pferd durch’s Eis gebrochen und in das kalte Wasser gefallen. | gebrochen | gefallen | |||
2 | Mein Bruder ist am schnellsten gelaufen, das hätte ich mir nicht gedacht. | gedacht | gelaufen | |||
3 | Der Priester hat mir gesagt, dass ich gesündigt habe. | gesagt, gesündigt | ||||
4 | Ich habe gemerkt, dass mich niemand ernst nimmt, also habe ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. | gepackt, gegangen | gemerkt | |||
5 | Du hast heute am meisten gelernt und bist brav gewesen. | gewesen | gelernt | |||
6 | Sie hat mir sonst immer geholfen, aber heute hat sie mich nicht einmal gegrüßt. | gegrüßt | geholfen | |||
7 | Hättest Du ihn gekannt oder zumindest einmal getroffen! Dann wäre alles anders gekommen. | gekannt, getroffen, gekommen | ||||
8 | Wer hat mir meinen Korb mit Fleisch gestohlen? | gestohlen | ||||
9 | Sie haben andere beschuldigt, haben es aber selbst getan – das hat mich genervt. | getan | genervt | |||
10 | Der Schnee ist diese Nacht bei uns liegen geblieben, aber heute Morgen ist er geschmolzen. | geblieben | geschmolzen | |||
11 | Ich bin nach Brixen gefahren und habe beim Bahnhof geparkt. | geparkt | gefahren | |||
12 | Meine Mutter hat alles für ihn gemacht, aber es hat nichts genützt. | gemacht, genützt | ||||
13 | Sie ist ganz allein den Hang hinuntergerodelt – damit hätte ich nicht gerechnet, ich habe noch nie so viel Angst gehabt. | gehabt | hinuntergerodelt, gerechnet | |||
14 | Sepp hat sein Leben lang dort gewohnt, bis er gestorben ist. | gewohnt, gestorben | ||||
15 | Die Lehrerin hat Kathrin mit einer Strafaufgabe gedroht. | gedroht |
Und was kam heraus…? – Ergebnisse
Wie aus Abbildung 1 ersichtlich ist, bleibt bei den Plosiven (gelbe Umrandung) bei fast allen Verben die Vorsilbe ge- vollständig erhalten, nur bei gegangen und gekommen fällt sie jeweils ganz weg. Warum ist das so? Das Nichtvorhandensein des Präfixes bei gekommen dürfte damit zusammenhängen, dass dieses Verb bereits im Mittelhochdeutschen im Partizip II kein Präfix aufwies. Es lautete damals also schon komen. Ein Grund dafür dürfte sein, dass Verben wie kommen „sich […] schon von ihrer Bedeutung her auf eine abgeschlossene oder punktuelle Handlung beziehen“ (Paul et al. 2007: 247). Ge- als Vergangenheitsmarker wird also durch die im Verb bereits integrierte Bedeutung, nämlich der des Abgeschlossenseins, überflüssig. Bei gegangen ist das Präfix dagegen erst im Laufe der Zeit verloren gegangen, da der Schwa-Laut zwischen gleichen Konsonanten wegfiel (gegangen, vgl. Paul et al. 2007: 248).
Abb. 1: Realisierung von ge- aus den mündlichen Sprachdaten (gelbe Umrandung: Plosive, grüne Umrandung: Frikative, rote Umrandung: Nasale, violette Umrandung: Laterale, blaue Umrandung: Vibranten); fehlende Daten ergeben sich aus alternativen Wörtern, die bei der Übersetzung gebraucht wurden und somit die hier interessierende Lautfolge nicht abgebildet haben.)
Abb. 2: : Realisierung von ge- aus den schriftlichen Sprachdaten (gelbe Umrandung: Plosive, grüne Umrandung: Frikative, rote Umrandung: Nasale, violette Umrandung: Laterale, blaue Umrandung: Vibranten); fehlende Daten ergeben sich aus alternativen Wörtern, die bei der Übersetzung gebraucht wurden und somit die hier interessierende Lautfolge nicht abgebildet haben.)
In Bezug auf die Frikative (grüne Umrandung) lässt sich sagen, dass ge hauptsächlich zu g verkürzt wird. Das gilt allerdings nicht, wenn ein w danach folgt. Die Beispielwörter gewesen und gewohnt zeigen, dass bei fast allen ProbandInnen hier das Präfix ge erhalten bleibt. Das scheint in diesem Fall nicht am Wort zu liegen (wie bei gegangen und gekommen), sondern am Laut selbst: w nimmt offenbar innerhalb der Frikative eine Sonderstellung ein.
Interessant ist außerdem das Wort gesündigt, das bei zwei ProbandInnen das e nicht eingebüßt hat. Es ist ein Wort, das häufig in kirchlichem Kontext gebraucht wird und deshalb zuweilen standardnäher artikuliert wird (vgl. heilig oder Fleisch, die eigentlich im Dialekt als hoalig und Floasch ausgesprochen werden müssten, weil sie beide auf mittelhochdeutsch ei zurückgehen).
Uneindeutiger wird es nun bei nachfolgenden Nasalen, Lateralen und Vibranten (also m/n, l und r). Bei den Nasalen und Vibranten (rote und blaue Umrandung) blieb das ge in der Mehrzahl erhalten, wenngleich es hier schon mehrere Ausreißer gibt. Bei nachfolgendem Lateral (violette Umrandung) hingegen entfällt das e in der Mehrzahl. Allgemein kann festgehalten werden, dass die Verhältnisse bei den drei letztgenannten Lautgruppen also nicht so eindeutig sind wie bei den Plosiven und Frikativen.
Wie sind diese Befunde einzuordnen, schließlich wurden ja jüngere InformantInnen befragt, die möglicherweise standardnähere Varianten produzieren? Beim Vergleich mit dem „Tirolischen Sprachatlas“ (TSA; Klein et al. 1965) zeigt sich, dass sich die entsprechende Sprachkarte immer noch sehr gut mit meinen Ergebnissen deckt: Bei getan bleibt in der Klausner Gegend (siehe roter Punkt) laut TSA die komplette Vorsilbe erhalten, gesagt wird als ksok artikuliert und gehabt als kop – ganz ähnlich, wie es auch bei meinen Daten der Fall ist. Es ist aber auch ersichtlich, dass das Präfix ge in Klausen bei gewesen erhalten bleibt. Meine Daten (3x gwesn, 1 x gwohnt) könnten darauf hinweisen, dass sich das vielleicht in Zukunft zugunsten von gwesn bzw. gwohnt ändern wird.
Abb. 3: Tirolischer Sprachatlas (TSA, Klein et al. 1965), Karte 67
Schreibe wie du sprichst…!? – Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Form
Wie die beiden Diagramme (Abb. 1 und 2) veranschaulichen, gibt es aber teilweise auch beim selben Wort unterschiedliche Realisierungen des Präfixes – je nachdem, ob in mündlicher oder schriftlicher Form. Bei den Plosiven gibt es nur einen „Ausreißer“ – eine Person, die vor fast allen Plosiven das Präfix lediglich als g verschriftlicht hat – ansonsten stimmen mündliche und schriftliche Form überein. Die Stabilität des ge vor Plosiven zeigt sich also auch in der schriftlichen Version.
Vor Frikativen wird insgesamt ge meist zu g verkürzt. Das ist interessant, denn in der mündlichen Form bleibt ge häufiger erhalten (womit sie eigentlich standardnäher ist) als in der schriftlichen Form (die damit „dialektaler“ ist). Das gilt hier vor allem für die Verben, auf die nach dem Präfix ein w folgt (gewesen, gewohnt), jene Verben also, die schon im Mündlichen nicht mehr ganz so stabil waren. Mündlich wurde dennoch hauptsächlich gewesn und gewohnt produziert, schriftlich aber häufiger gwesn und gwohnt. Besonders interessant sind hier auch die Verben, die im Infinitiv mit h beginnen – bei beiden Beispielen wird das Partizip II mit k (kolfen, kop) ausgesprochen, teilweise aber mit gh verschriftlicht (gholfen, ghop).
Bei Nasalen, Vibranten und Lateralen sind die Verhältnisse wiederum nicht so eindeutig. Aber auch hier gibt es eine leichte Tendenz, die Wörter in der schriftlichen Version dialektaler wiederzugeben als in der mündlichen.
Bei näherer Betrachtung der Ergebnisse wird demnach schnell klar, dass der scheinbar einfache Auftrag, Sätze aus dem Standarddeutschen in den eigenen Dialekt zu übertragen, also genau so niederzuschreiben, wie sie ausgesprochen werden, in Wirklichkeit sehr komplex ist.
Warum ist das so? Das grundsätzliche „Problem“ ist, dass es in der Verschriftlichung des Dialekts keine eindeutigen „Regeln“ gibt, sondern „Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Schreibgebräuchen oder ‚Grapholekten‘ herrscht“ (Lötscher 1989: 273). Während einige Personen die phonetische Schreibung bevorzugen, also darauf abzielen, dialektale Laute möglichst präzise wiederzugeben, ist für andere das leitende Kriterium die Verständlichkeit und sie plädieren daher für eine am Standarddeutschen (und an dessen Orthographie) orientierte Schreibung (vgl. Lötscher 1989: 274). Häufig werden dialektale Wörter daher ähnlich verschriftlicht wie im Standarddeutschen, obwohl dies aus lautlicher Sicht keinen Sinn ergibt – so etwa die Inklusion eines stummen h oder eines ck statt k (vgl. Lötscher 1989: 279).
Auch Christen (2004) hebt hervor, dass in den von ihr analysierten schweizerdeutschen Chats die Wiedergabe der dialektalen Laute häufig am Standard orientiert ist, z. B. wurde wieder im Dialekt auf dieselbe Weise verschriftlicht wie im Standarddeutschen, auch wenn man das e ja gar nicht ausspricht. (vgl. Christen 2004: 9) Andererseits lassen sich aber auch Überadaptionen feststellen, etwa schtecke (Standarddeutsch: stecken) (vgl. Christen 2004: 9), oder, noch extremer: Schreibungen wie iisii (easy) oder Kiffsch fell? („Kiffst du viel?“) (vgl. Christen 2004: 12).
Es kann also auch der umgekehrte Fall eintreten – meinen Daten nach ist es beispielsweise so, dass ge insgesamt in der mündlichen Form öfter erhalten bleibt als im Schriftlichen und sich demnach die schriftliche Form stärker vom Standard abhebt. Möglicherweise hat das den Grund, dass in der schriftlichen Form darauf geachtet wird, dass das Wort möglichst „dialektal“ aussieht (z. B. gblieben statt geblieben), was vielleicht auch der Tatsache geschuldet war, dass es sich um eine spezielle Situation gehandelt hat: dialektaffine Germanistikstudentin will Sprachdaten von mir. Ähnlich verhält es sich bei Wörtern wie der schriftlichen Form kop für gehabt. Der Prozess des Schreibens scheint hier also ein reflektierterer zu sein als der des Sprechens.
Schlussworte
„I bin kemmen, hon gsegn und hon gewunnen“.
Es ist wahrlich interessant, wie viel sich an einem auf den ersten Blick so unscheinbaren Präfix alles analysieren lässt – etwa, wie es vom nachfolgenden Laut beeinflusst wird und wie es sich in mündlicher und schriftlicher Form unterscheidet. Wie diese Entwicklung fortschreitet, werden hoffentlich zukünftige Studien noch weiter dokumentieren – und wenn Sie nun selbst einmal nach Südtirol bzw. nach Klausen kommen, dann können Sie zumindest in Bezug auf die Verwendung des Partizips II im Dialekt mit gutem Gewissen sagen: „I bin kemmen, hon gheart und hon mi glei ausgekennt![1]“
[1] „Ich bin gekommen, habe (den Dialekt) gehört und habe mich sofort ausgekannt.“
Literatur
Christen, Helen (2004): Dialekt — Schreiben oder „sorry ech hassä Text schribä“. In: Glaser, Elvira / Peter Ott / Rudolf Schwarzenbach(Hrsg.): Alemannisch im Sprachvergleich. Beiträge zur 14. Arbeitstagung für alemannische Dialektologie in Männedorf (Zürich) vom 16.–18.9.2002, S. 71–85.
Online-Zugriff unter: https://folia.unifr.ch/unifr/documents/303116 [24.02.2023].
Klein, Karl Kurt / Egon Kühebacher / Ludwig Erich Schmitt(1965): Tirolischer Sprachatlas: Bd. 1: Vokalismus. Marburg: Elwert.
Kranzmayer, Eberhard (1956): Historische Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes: mit Laut- und Hilfskarten in besonderer Mappe: [Karten]. Graz: Wien [u. a.]: Böhlau.
Lötscher, Andreas (1989): Probleme und Problemlösungen bei der Mundartschreibung des Schweizerdeutschen. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. 56. Jahrg., H.3, S. 273–297.
Paul, Hermann / Heinz-Peter Prell / Ingeborg Schöbler / Thomas Klein / Hans-Joachim Solms / Klaus-Peter Wegera (2007): Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Auflage. Tübingen: Niemeyer (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, 2).
Wenkerbogen-App: https://apps.dsa.info/wenker/ [07.04.2023].
Diesen Beitrag zitieren als:
Unterfrauner, Marlies. 2024. „I bin kemmen, hon gsegn und hon gewunnen…“. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 4(1). https://doi.org/10.57712/2024-01