Dialekte im digitalen Wissensraum der Sprache

Worin unter­schei­den sich die Wörter Pferd, Gaul, Ross, Hengst? „In ihrer Bedeutung“, werden Sie vielleicht denken? Während Pferd die neutrale Bezeich­nung für Exemplare der Gattung Equus ist, handelt es sich beim Ross um ein anmutiges Reittier, wohin­ge­gen der Gaul seine besten Tage schon hinter sich hat. Hengst wiederum bezeich­net nur das männliche Pferd. So weit, so klar.

Wer einen Blick in die Dialekte des Deutschen wagt, sieht aber sehr schnell, dass die Wörter, die in unserer Standard­spra­che unter­schied­li­che Bedeu­tun­gen haben, regio­nal­sprach­lich Synonyme sind; sie klingen verschie­den, meinen aber dasselbe.

Abb. 1: Die Karte “Pferd” in den Dialekten des Deutschen Ende des 19. Jhs. Nachzeich­nung von Karte 48 aus dem “Sprach­at­las des Deutschen Reichs” von Georg Wenker (1889–1923). Karte: Marina Frank.

So zeigt die Karte die regionale Vertei­lung der Ausdrucks­va­ri­an­ten von „Pferd“ in den Dialekten Ende des 19. Jahrhun­derts. Das Wort Ross wird vor allem im süddeut­schen Raum verwendet, Gaul reicht bis ins Mittel­deut­sche hinein. Im nord- und ostdeut­schen Raum dominiert das Lexem Pferd und im Friesi­schen und Dänischen finden wir Formen von Hengst. Anders als in der Standard­spra­che sind mit den Varianten keine Bedeu­tungs­un­ter­schie­de verbunden. Will man also den deutschen Wortschatz in seiner Fülle und Struktur, aber auch in seiner Geschicht­lich­keit und Regio­na­li­tät erfassen, so führt kein Weg an den Dokumen­ta­tio­nen und Beschrei­bun­gen der Dialekte vorbei.

Am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas (DSA) werden die Dialekte des Deutschen seit 140 Jahren dokumen­tiert und erforscht. Die Sammlun­gen umfassen unter anderem mehr als 20.000 Sprach­kar­ten, Sprach­auf­nah­men aus ca. 6.000 Orten sowie schrift­li­che Dialekt­pro­ben aus über 57.000 Orten; darunter viele Dokumente histo­ri­scher Ortsdia­lek­te, die heute nicht mehr gespro­chen werden. Kaum eine andere Sprache auf der Welt ist in ihrer regio­na­len Vielfalt so gut dokumen­tiert wie das Deutsche.

Bis in das 20. Jahrhun­dert hinein waren die Dialekte für die meisten Personen die wichtigs­te Form gespro­che­ner Sprache. Mit ihrer Vielfalt an Ausdrucks­mög­lich­kei­ten spiegeln sie die Kultur- und Menta­li­täts­ge­schich­te der ländli­chen und städti­schen Regionen wider. Auch bilden die Dialekte die Sprach­ge­schich­te ab, Sprach­wan­del wird im Raum sichtbar. So war Ross das ältere, gemein­ger­ma­ni­sche Wort, wohin­ge­gen Pferd erst im 8. Jahrhun­dert aus dem mittel­la­tei­ni­schen parave­r­edus entlehnt wurde. Das neue Wort machte schnell Karriere – besonders im fränki­schen Westen – und verdräng­te von dort ausgehend die älteren Formen im mittel- und norddeut­schen Raum, darunter Gaul, das histo­risch auch im Nieder­deut­schen verbrei­tet war.

Die räumliche und histo­ri­sche Komple­xi­tät von Wortfel­dern ist unserer modernen Standard­spra­che abhan­den­ge­kom­men. Im Zuge eines langwie­ri­gen Ausgleichs­pro­zes­ses wurden nur Ausschnit­te der sprach­li­chen Vielfalt in die überre­gio­na­le Schrift­spra­che aufge­nom­men. Will man also die deutsche Sprache in ihrer Gesamt­heit erfassen, will man einzelne Wortge­schich­ten nachzeich­nen oder auch histo­ri­sche Texte angemes­sen verstehen können, so sind die dialek­ta­len Wortschät­ze ein notwen­di­ger Bezugspunkt.

Seit 20 Jahren werden daher die dialek­to­lo­gi­schen Materia­li­en am DSA digita­li­siert. Neben einer langfris­ti­gen Sicherung der histo­ri­schen Quellen liegt das vorran­gi­ge Ziel darin, die Forschungs­do­ku­men­te der Fachcom­mu­ni­ty sowie der Öffent­lich­keit online verfügbar zu machen. Zu diesem Zweck wurde eine Reihe von Online-Anwendungen entwi­ckelt, über die auf die Dokumente zugegrif­fen werden kann. Zentral ist dabei das sprach­geo­gra­phi­sche Infor­ma­ti­ons­sys­tem SprachGIS, in dem über eine Karten­an­sicht digita­li­sier­te Sprach­kar­ten betrach­tet werden können. Die Sprach­kar­ten sind mit zahlrei­chen Sprach­auf­nah­men, ortsbe­zo­ge­nen Litera­tur­an­ga­ben sowie weiteren Daten­sät­zen verknüpft. Auch lassen sich neue Daten­sät­ze in das System integrie­ren und eigene Karten zeichnen.

Abb. 2: Die Forschungs­platt­form REDE SprachGIS

Das SprachGIS, das im Rahmen des Akade­mie­pro­jekts Regionalsprache.de (REDE) entwi­ckelt wurde, stellt damit ein inter­ak­ti­ves Forschungs­werk­zeug dar, mit dem die Nutzer:innen verschie­de­ne Daten­be­stän­de syste­ma­tisch aufein­an­der beziehen und analy­sie­ren können. Auf diesem Weg lässt sich der tiefgrei­fen­de Wandel von den histo­ri­schen Dialekten zu den modernen Regio­nal­spra­chen, der die Entwick­lun­gen des 20. Jahrhun­derts kennzeich­net, detail­liert nachzeich­nen. Die Dialekt­da­ten sind jedoch nicht nur innerhalb der Marburger Web-Anwendungen mitein­an­der vernetzt, sondern sie sind auch mit anderen sprach­wis­sen­schaft­li­chen Online-Portalen verbunden, zum Beispiel mit dem Trierer Wörterbuchnetz und dem Göttinger Frühneuhochdeutschen Wörterbuch.

Abb. 3: Das REDE SprachGIS als vernetzte Ressource

Die sprach­li­chen Forschungs­da­ten sind damit nicht mehr auf ihren Publi­ka­ti­ons­ort – zum Beispiel eine Dialekt­kar­te oder ein Wörter­buch­ar­ti­kel – beschränkt, sie überschrei­ten räumliche und mediale Grenzen. Sie werden Teil eines „digital entgrenz­ten Wissens­raums“ (Ceynowa 2014, siehe auch Lameli 2018). In diesem Wissens­raum werden die dialek­ta­len Daten Bestand­teil einer allge­mei­nen Kulturgeschichte.

Diesen digitalen Wissens­raum noch einmal wesent­lich zu erweitern, ist Ziel der gemein­sa­men Bemühun­gen in der Task Area Lexika­li­sche Ressour­cen des NFDI-Konsortiums Text+. Als Linked Open Data werden die dialek­ta­len Forschungs­da­ten mit denen zahlrei­cher anderer Ressour­cen dynamisch verbunden. In Zusam­men­ar­beit verschie­de­ner Partner wird ein gemein­sa­mes Recher­che­por­tal entwi­ckelt, das eine vernetzte Suche sowie eine Vielzahl automa­ti­sier­ter Abfragen und Analysen ermög­licht. Für die Öffent­lich­keit, für Schulen, aber auch für Forschen­de verschie­dens­ter Diszi­pli­nen wird damit der digitale Wissens­raum der Sprache über ein zentrales Portal erkundbar: über eine föderier­te Suchma­schi­ne für Sprache. Zugleich entsteht über das Konsor­ti­um Text+ ein Koope­ra­ti­ons­ver­bund, der neue techni­sche Maßstäbe für die Vernet­zung sprach­li­cher Daten und den Aufbau von Forschungs­da­ten­in­fra­struk­tu­ren setzen wird.

Mit den einma­li­gen Beständen an digitalen Dialekt­da­ten und der langjäh­ri­gen Expertise in der Entwick­lung von Online-Informationssystemen trägt das Forschungs­zen­trum Deutscher Sprach­at­las seinen Teil zum Gelingen dieses Vorhabens bei.

Literatur:

Ceynowa, Klaus (2014): Digitale Wissens­wel­ten – Heraus­for­de­run­gen für die Biblio­thek der Zukunft. In: Zeitschrift für Biblio­theks­we­sen und Biblio­gra­phie 61(4/5), S. 235–238. http://dx.doi.org/10.3196/18642950146145109.

Lameli, Alfred (2018): Alte Karten, neue Daten. Zur Trans­for­ma­ti­on eines histo­ri­schen Grund­la­gen­werks der Sprach­wis­sen­schaft. In: Zeitschrift für Biblio­theks­we­sen und Biblio­gra­phie 65(5–6), S. 259–267. http://dx.doi.org/10.3196/1864295018655635.

Anmerkung

Dieser Text wurde ursprüng­lich hier veröf­fent­licht: Ressourcen-Reigen, #1: Deutscher Sprachatlas. Dialekte im digitalen Wissensraum der Sprache – Text+ Blog (hypotheses.org)

Diesen Beitrag zitieren als:

Fischer, Hanna. 2023. Dialekte im digitalen Wissens­raum der Sprache. In: Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 3(3). https://doi.org/10.57712/2023-03

Hanna Fischer
Prof. Dr. Hanna Fischer ist Professorin für Germanistische Linguistik am Deutschen Sprachatlas. Sie forscht zu Variation und Wandel des Deutschen. Im Forschungsprojekt Regionalsprache.de der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz ist sie in der Projektleitung tätig.