Rhythmus regional – Ein neuer Blick in den Sprachraum dank Citizen Science

Es gibt über 3000 Wenker­kar­ten. Sie alle zeichnet aus, dass sie ein einzelnes Wort, mitunter auch nur einen Wortbe­stand­teil dokumen­tie­ren (z.B. eine Silbe oder einen Wortstamm, vgl. die Karten Brot oder Kleid(-er)). Analysen, die mehrere Wortein­hei­ten betreffen, sind rar, wurden aber punktuell durch­ge­führt, z.B. bezogen auf die Wortstel­lung. So zeigt Fleischer (2011), wie sich z.B. die Abfolge von Pronomen (… ihr es gesagt vs. … es ihr gesagt) je nach Region in den Wenkersätzen unter­schei­det. Hingegen gibt es auf Grundlage des Wenker­ma­te­ri­als bislang keine Analysen zu proso­dischen Eigen­schaf­ten der Dialekte, also z.B. zum Sprechrhythmus, dem die Dialekte folgen. Nicht auszu­schlie­ßen ist, dass sich die Regionen auch in dieser Hinsicht unter­schei­den. Daher soll ein neuer Blick auf die Wenke­rer­he­bung geworfen werden, indem der Frage nachge­gan­gen wird, ob sich in den Überset­zun­gen einzelner Wenker­sät­ze Unter­schie­de im Rhythmus der Sätze nachwei­sen lassen. Sollte dies der Fall sein, so ist weiterhin zu fragen, inwieweit sich dabei regionale Unter­schie­de abzeichnen. 

Betont, unbetont, betont, unbetont: Vom Stabreim zum Trochäus

Das Deutsche ist eine Sprache, deren Rhythmus auffal­lend oft der regel­mä­ßi­gen Abfolge von betonten und unbeton­ten Silben folgt (Trochäus). Sprach­his­to­risch lässt sich diese Präferenz auf den Umbau des Akzent­sys­tems in germa­ni­scher Zeit zurück­füh­ren. Das Latei­ni­sche, das die indoger­ma­ni­sche Sprach­grup­pe und damit unsere sprach­li­che Vorzeit reprä­sen­tiert, zeigt, wie die Akzent­ver­hält­nis­se in vorger­ma­ni­scher Zeit waren, nämlich relativ frei. Im Paradigma des latei­ni­schen Verbs amare (‘lieben’) wird dies schon an wenigen Beispie­len deutlich: 

ámo  ‘ich liebe’1. P. Sg. Präsens
amábam‘ich liebte’1. P. Sg. Imperfekt
amaverám‘ich werde lieben’1. P. Sg. Futur I

In germa­ni­scher Zeit kommt es zur Verein­fa­chung dieses zwar nicht regel­lo­sen, aber doch insgesamt kompli­zier­ten Systems hin zu einer vorran­gi­gen Betonung der ersten Silbe eines Wortes. Dieser Fokus auf den Wortan­fang wird in der Stabreimdichtung deutlich. Die folgende Zeile aus dem Hildebrandslied (8. Jahrhun­dert n. Chr.) verdeut­licht nicht nur, wie sich die Wortan­fän­ge innerhalb des Verses wieder­ho­len, sondern auch, wie strikt der Akzent, wenn er gesetzt wird, auf den Wortan­fang fällt: 

Sie strafften ihre Hemden und legten sich ihr Schwert an

Während sich der Stabreim als litera­ri­sches Mittel weithin verlor, prägt die Initi­al­ak­zen­tu­ie­rung die deutsche Sprache noch immer. Das Deutsche präfe­riert häufig ein trochäi­sches Muster aus sich abwech­seln­den betonten und unbeton­ten Silben. Ein solches Muster ist gerade bei einer flektie­ren­den Sprache wie dem Deutschen günstig, ermög­licht es doch im Redefluss das Alter­nie­ren von z.B. lexika­li­scher Infor­ma­ti­on – ausge­drückt im Wortstamm – und gramma­ti­scher Infor­ma­ti­on, die sich über die Flexi­ons­en­dung ausdrückt. Das lässt sich zum Beispiel am Nominalkomplex verdeut­li­chen, mit dem der zweite Wenker­satz (WS 2) beginnt: 

der gúte álte Mánn

Der Artikel (der) bildet einen unbeton­ten Auftakt, der eine rein gramma­ti­sche Funktion trägt. Es folgen zwei zweisil­bi­ge Adjektive (gúte álte), bei denen jeweils die erste Silbe betont ist und zugleich die lexika­li­sche Infor­ma­ti­on einführt, während die zweite Silbe jeweils unbetont ist und die durch den Artikel bereits angelegte gramma­ti­sche Infor­ma­ti­on trägt (Nominativ, Singular, Masku­li­num). Ein einsil­bi­ges Substan­tiv (Mánn) beschließt die Äußerung. Unter Berück­sich­ti­gung der Wortgren­zen (.) sowie betonten (–) und unbeton­ten (⏑) Silben ergibt sich das Schema:

(⏑.)–⏑.–⏑.–

Rhyth­misch handelt es sich in diesem standard­sprach­li­chen Ausdruck um einen Trochäus mit Auftakt, der hier in Klammern gesetzt wurde. Die Frage ist, inwieweit sich dieser Rhythmus auch in den Dialekten des deutschen Sprach­raums zeigt. Aus den wortba­sier­ten Wenker­kar­ten ist diese Infor­ma­ti­on kaum zu gewinnen. Es müssen die Sätze selbst in den Blick genommen werden. Durch die engagier­te Mithilfe von Personen aus dem gesamten deutschen Sprach­raum – in der Wissen­schafts­land­schaft spricht man von Citizen Scientists – ist dies nun erstmals möglich. 

Der Datensatz: Transliteration der Wenkersätze

In der Wenkerbogen-App wurden bis zum Ende des Jahres 2024 mehr als 5600 Wenker­bö­gen und mehr als 175.000 Wenker­sät­ze trans­li­te­riert. Das entspricht grob 10% des Gesamt­um­fangs. Damit hat sich das 2020 aufge­nom­me­ne Citizen-Science-Projekt als Erfolgs­mo­dell etabliert. Erste Auszeich­nun­gen an dieje­ni­gen Personen, die die Schall­mau­er von 10.000 trans­li­te­rier­ten Sätzen durch­bro­chen haben, sind bereits vergeben worden. Abbildung 1 zeigt als Übersicht die regionale Vertei­lung der bishe­ri­gen Trans­li­te­ra­tio­nen. Je heller der Grünton ausfällt, desto mehr Trans­li­te­ra­tio­nen liegen in den Regionen vor. Noch ist das Ortsnetz unaus­ge­wo­gen; es bestehen zahlrei­che Lücken, doch ist die regionale Vertei­lung der Trans­li­te­ra­tio­nen nun schon so weit, dass erste raumüber­grei­fen­de Analysen möglich sind. 

Abbildung 1: Bisherige Trans­li­te­ra­tio­nen in der Wenkerbogen-App (Stand 12/2024). Die vorlie­gen­den Trans­li­te­ra­tio­nen sind in 1000 Hexagonen kumuliert; je heller der Grünton, desto mehr Trans­li­te­ra­tio­nen liegen in einem Hexagon vor.

Im vorlie­gen­den Fall inter­es­sie­ren aus den Wenker­sät­zen (WS) 2 und 4 folgende syntak­ti­sche Teile:

WSTeilsatzTypSchemaDeutsch­spra­chi­ge Trans­li­te­ra­tio­nen (Translit. insg.)
2Es hört gleich auf zu schneienHauptsatz(⏑.)–.⏑.–.⏑.–⏑3923 (4439)
4Der gute alte MannNominal­phra­se(⏑.)–⏑.–⏑.–3806 (4320)

Die Analyse greift ausschließ­lich auf die deutsch­spra­chi­gen Überset­zun­gen der Wenker­sät­ze zurück. Dabei geraten mit WS 2 und WS 4 zwei unter­schied­li­che syntak­ti­sche Typen in den Blick, die jedoch beide in der schrift­sprach­li­chen Vorgabe ein alter­nie­ren­des Rhythmus-Schema aufweisen. Gegenüber dem oben bereits aufge­führ­ten WS 4 verdeut­licht WS 2, wie sich dieses alter­nie­ren­de Schema über Wortgren­zen hinweg verteilen kann. 

Blick in den Sprachraum: Rhythmus regional

Abbildung 2 zeigt für WS 2 eine Präferenz für einen alter­nie­ren­den Rhythmus im Norden und eine Präferenz für einen Rhythmus, der diesem alter­nie­ren­den Muster nicht entspricht, im Süden. Dazwi­schen liegt ein großes Misch­ge­biet mit unter­schied­li­chen räumli­chen Schwerpunkten. 

Abbildung 2: Belege für alter­nie­ren­den und nicht-alternierenden Rhythmus im Hauptsatz von Wenker­satz 2.

Im Süden ergibt sich der nicht-alternierende Rhythmus sehr häufig aus einer anderen syntak­ti­schen Struktur, bei der die Präpo­si­ti­on zu als Erwei­te­rung des Infini­tivs ausfällt (Beispiel 1, s.u.). Da der Satz bis auf das Verb nur einsil­bi­ge Wörter aufweist, schlägt sich dieser Ausfall unmit­tel­bar auf die Rhyth­mi­sie­rung des Satzes nieder. Sehr häufig begegnen aber auch Fälle wie in Beispiel 2, wo die Präpo­si­ti­on zwar erhalten ist, dann aber proklitisch mit dem Verb verschmol­zen ist. In solchen Fällen ist der Rhythmus folglich nicht von syntak­ti­schen Eigen­schaf­ten des Dialekts beein­träch­tigt wie in Beispiel 1, sondern von morpho­lo­gi­schen. Solche prokli­ti­schen Fälle begegnen häufig auch im mittel­deut­schen Sprach­raum, wie in Beispiel 3. Im Norden ist das Schema hingegen auch im Dialekt weithin alter­nie­rend wie im Standard­deut­schen, so z.B. in Beispiel 4. 

1Äs hert bald üif schniju⏑–⏑– –⏑Zwischbergen/Wallis
2Es hört glich uf z’schneie⏑–⏑– –⏑Maleck/Baden
3Et höt gleich off z’schneie⏑–⏑– –⏑Langendernbach/Lahn-Dill-Kreis
4Et hört glieks ob tau schnien⏑–⏑–⏑–Blankenburg/Harz

Etwas anders sind die Ergeb­nis­se für Wenker­satz 4 gelagert, wo im Norden und Süden das nicht-alternierende Muster weiter verbrei­tet ist. 

Abbildung 3: Belege für alter­nie­ren­den und nicht-alternierenden Rhythmus in der ersten Nominal­phra­se (zugleich erste Intona­ti­ons­phra­se) von Wenker­satz 4.

Der Unter­schied zu Abbildung 2 lässt sich leicht erklären. In den nördli­chen und südlichen Dialekten fällt bei zahlrei­chen Adjek­ti­ven und Substan­ti­ven der auslau­ten­de e-Laut aus. Diese sog. Schwa-Apokope ist im Wenkeratlas z.B. im Wort Affe proto­ty­pisch einzu­se­hen. Auch die flektier­ten Formen der Adjektive gut und alt sind hiervon i.d.R. betroffen, so z.B. in den Beispie­len 5, 6 und 7. Kontrast­bei­spie­le aus dem westli­chen und östlichen Sprach­ge­biet, wo die Schwa-Apokope nicht statt­ge­fun­den hat, bieten die Beispiele 8 und 9. 

5Dei gaur ohl Mann⏑– – –Selmsdorf/Mecklenburg
6Dan god’ ol’ Monn⏑– – –Wangerooge/Ostfriesland
7Der gout alt Moh⏑– – –Nürnberg
8D’ goaure ahle Mann⏑–⏑–⏑–Friedberg/Hessen
9Der jute olle Mann⏑–⏑–⏑–Rixdorf/Neukölln

Überra­schend sind hingegen v.a. dieje­ni­gen Fälle im norddeut­schen Apokope-Gebiet, in denen der e-Laut nicht ausge­fal­len ist, wie in den Beispie­len 10 und 11. Daneben bestehen Zwischen­for­men wie in Beispiel 12. Diese Fälle verhalten sich gegen die Erwartung, wie sie etwa durch die Affe-Karte gegeben ist. 

10Dei gaude olle Mann⏑–⏑–⏑–Ahlbeck/Usedom
11De gode ole Mann⏑–⏑–⏑–Cuxhaven
12De goode ohl‘ Mann⏑–⏑– –Bremen

Syntaktische Kohärenz durch Rhythmus

Eine Erklärung liegt insbe­son­de­re für die Beispiele 10 und 11 in der Infor­ma­ti­ons­struk­tu­rie­rung des syntak­ti­schen Komplexes. Dieser Komplex bildet zugleich eine sog. Intonationsphrase, d.h. eine hinsicht­lich ihrer Intona­ti­ons­kon­tur in sich geschlos­se­ne Einheit. Formal ist die Intona­ti­ons­phra­se im vorlie­gen­den Fall durch die Ränder der Nominalklammer des Satzes zwischen Artikel und Substan­tiv begrenzt (derMann). Damit bildet sie eine zusam­men­hän­gen­de Sinnein­heit. Es entsteht vor diesem Hinter­grund der Eindruck, dass der alter­nie­ren­de Rhythmus die Aufgabe übernimmt, die Kohärenz dieses Komplexes zu stärken. Zugleich wird damit die Apokope gehemmt. Ganz offen­sicht­lich verfahren die Dialekt­re­gio­nen hierbei jedoch unterschiedlich. 

Fazit

Der Vergleich der beiden Karten zeigt, dass es im deutschen Sprach­raum Regionen gibt, die eine Präferenz für die Rhyth­mi­sie­rung syntak­ti­scher Struk­tu­ren (Sätze, Phrasen) aufweisen. Die Nominal­phra­se in WS 4 (der … Mann) sticht dabei hervor. Sie folgt einer Klammer­struk­tur, die sich seit der althoch­deut­schen Epoche aufgebaut hat. Das Beispiel deutet an, dass mit der zuneh­men­den Füllung durch Attribute zwischen Artikel und Substan­tiv auch eine alter­nie­rend rhyth­mi­sche Struktur angelegt wurde. Betrach­tet man unter diesem Eindruck die Verbalklammer in WS 2 (hört … auf), so ist hier in praktisch allen Regionen das alter­nie­ren­de Rhythmus-Schema umgesetzt. Die Annahme einer signi­fi­kan­ten Verbin­dung von Klammer­struk­tur und Rhythmus ist damit weiter erhärtet. Gestört ist dieses Schema nur dann, wenn wie in dem sehr seltenen Beispiel 13 der erwei­ter­te Infinitiv zu schneien in die Klammer integriert wird. Vielleicht ist der Infinitiv also deswegen außerhalb der Klammer gesetzt, um – ähnlich wie in WS 4 – die Kohärenz der Klammer und darüber hinaus des ganzen Satzes über den alter­nie­ren­den Rhythmus zu stärken. Ein alter­nie­ren­der Rhythmus wäre in den südlichen Regionen innerhalb der Verbal­klam­mer auch dann möglich, wenn, wie in Beispiel 14 belegt, die Präpo­si­ti­on ausfällt. Diese Beispiele sind aller­dings sehr selten. 

13’s härt glei zu schnei’n ūf⏑–⏑⏑–⏑Neudorf (Nová Ves/Sudentenland)
14Es head glei schneim auf⏑–⏑–⏑Wald an der Alz

Deutlich wird am Beispiel der Schwa-Apokope aber auch, dass sich bisweilen Faktoren, die auf die proso­dische Struktur der Dialekte in unter­schied­li­cher Weise Einfluss nehmen, überla­gern können. Der Trochäus wirkt so gesehen zwar sehr tief in das Sprach­sys­tem des Deutschen hinein, jedoch in regional unter­schied­lich ausge­präg­tem Maße. Noch ist über die näheren Umstände zu wenig bekannt. Es wäre daher von hohem Interesse, über die vorlie­gen­den Sprach­spu­ren hinaus noch weitere Phrasen zu prüfen und zu einem Gesamt­bild zusam­men­zu­fü­gen. Die Trans­li­te­ra­tio­nen der Wenkerbogen-App werden hierfür neue Möglich­kei­ten liefern. Die Arbeit der Citizen Scien­tists kann vor diesem Hinter­grund gar nicht hoch genug einge­schätzt werden. 

Literatur

Fleischer, Jürg (2011). … und habe es ihr gesagt. Zur dialek­ta­len Abfolge prono­mi­na­ler Objekte (eine Auswer­tung von Wenker­satz 9). In: Elvira Glaser, Jürgen Erich Schmidt & Natascha Frey (Hrsg.): Dynamik des Dialekts – Wandel und Variation. Akten des 3. Kongres­ses der Inter­na­tio­na­len Gesell­schaft für Dialek­to­lo­gie des Deutschen (IGDD), 77–100.

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Lameli, Alfred. 2025. Rhythmus regional – Ein neuer Blick in den Sprach­raum dank Citizen Science. In: Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las ………

Alfred Lameli
Alfred Lameli ist Direktor des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas und Professor für Germanistische Sprachwissenwissenschaft mit dem Schwerpunkt Regionalsprachenforschung an der Universität Marburg.