Twittern im Ostfriesischen – Phonologischer Umbau und typologische Konvergenz in einer untergehenden Sprache des 19. Jahrhunderts

Sprachen verändern sich – manchmal unbemerkt, bis sich in einer beiläu­fi­gen Lautver­schie­bung eine tiefgrei­fen­de Entwick­lung offenbart. Besonders aufschluss­reich ist dieser Prozess, wenn er sich nicht – wie so häufig – in vitalen Sprach­ge­mein­schaf­ten vollzieht, sondern in Sprachen, die bereits im Verschwin­den begriffen sind. Das Ostfrie­si­sche, im 19. Jahrhun­dert auf der Insel Wangerooge letztmals dokumen­tiert, bevor es im 20. Jahrhun­dert vollstän­dig dem Nieder­deut­schen weicht, bietet ein solches Szenario: eine moribunde Varietät, die sich im Prozess ihres Erlöschens nochmals lautlich umformt. Angespro­chen ist der Wandel von ostfrie­sisch quider zu twíder für das Wort ‘sagen’. Der dahinter stehende Prozess ist mehr als nur ein Randphä­no­men histo­ri­scher Phono­lo­gie, er verdeut­licht allge­mei­ne Prinzi­pi­en und mit ihnen die Dynamik des Wandels von Sprache.

Ausgangslage: quēthaquidertwíder

Für das Altfriesische (13.–16. Jh.) wird für das Verb ‘sagen’ die Form quētha angesetzt. Es gehört zu einem nord- und westger­ma­ni­schen Formen­feld, das sich in den Einzel­spra­chen verschie­den entwi­ckelt hat. Einen frühen typolo­gi­schen Überblick liefert Winkler (1874: 158) in seiner Überblicks­dar­stel­lung zum nördli­chen Westgermanischen, v. a. dem Nieder­län­di­schen, Nieder­deut­schen und Friesi­schen. Im Zusam­men­hang mit sater­frie­si­schem quêde schreibt er:

  • Quêde ist ein rein friesi­sches Wort, das aller­dings aus dem heutigen Westfrie­si­schen bereits verschwun­den ist; im Wanger­oo­ger Friesi­schen kommt dieses Wort aber auch in der Form quiderqueidquithin und im Nordfrie­si­schen als quede vor. […] Im Altfrie­si­schen gibt es quetha, im Angel­säch­si­schen cvædan, im Altsäch­si­schen quethan, im Gotischen quithan, im Islän­di­schen queda, im Dänischen quaede, im Schwe­di­schen quäda usw. (KI-basierte Überset­zung aus dem Nieder­län­di­schen abgerufen über deepl)
    • Original: Quêde is een zuiver friesch woord, dat echter uit het gewone heden­da­ag­sche westfriesch reeds verdwenen is; maar in het wanger­oo­ger friesch komt dit woord eveneens nog voor onder den vorm quiderqueidquithin en in ’t noordfriesch als quede. […] Het oudfriesch heeft quetha, het angel­sak­s­isch cvaedan, het oudsak­s­isch, het gothisch quithan, het ijs landsch queda, het deensch quaede, het zweedsch quäda, enz.

Im Ostfrie­si­schen begegnet also die Form quider als direkte Weiter­ent­wick­lung von quētha. Der Darstel­lung von Winkler (1874) sind auch einige konju­gier­te Formen wie îk quider, du quost, hi qua etc. zu entnehmen. Etwas anders ist die Dokumen­ta­ti­on in der Textsamm­lung von Firmenich (1854), die ebenfalls das Wanger­oo­ger Friesisch beschreibt. In insgesamt sechs Texten tritt die Form insgesamt 20-mal als (hiqueid(s) in der 3.SG.Prät. mit redeein­lei­ten­der Funktion auf, einmal auch als (erwei­ter­ter) Infinitiv to quiddern. Beispiele im Kontext sind: 

Hi awer queids to him ‘Er aber sagte zu ihm’

Hi quid d’drup ‘Er sagt darauf’

… ein Wod to quiddern ‘… ein Wort zu sprechen’

Daneben ist bei Ehren­traut (1849) eine alter­na­ti­ve Form twíder belegt, die aller­dings nur von jüngeren Personen verwendet wird. Im „Ostfrie­si­schen Wörter­buch“ (Stüren­burg 1862) ist die Form nicht aufge­führt, ebenso verhält es sich im „Wörter­buch der ostfrie­si­schen Sprache“ (ten Doornkaat Koolman 1884). Während auch Firmenich und Winkler diese Form nicht belegen, tritt sie in späteren Quellen wie der Arbeit von Siebs (1923), der 1899 die verblie­be­nen 11 Sprecher:innen des Friesi­schen befragt hatte, ausschließ­lich auf. Hier finden sich zudem paradig­ma­ti­sche Varianten mit tw-Anlaut: twidrtwāidtwídīn. Ein weiteres Beispiel liefert der „Sprach­at­las des deutschen Reichs“ von Georg Wenker. Im Erhebungsbogen von Wangerooge aus dem Jahr 1878 sind die betref­fen­den Sätze 9 und 17 „von einem alten Manne vorge­nom­men und von einem Kinde nachge­schrie­ben“, so die Angabe auf der Rückseite des Bogens. Das Ergebnis lautet:

WS 9: Ik ſin bi ju Wüf’ wiſſien un hebb herrit twiddien, un ju tweid, ju weilt uck herri Vaun twidder. ‘Ich bin bei der Frau gewesen und habe es ihr gesagt und sie sagte, sie wolle es auch ihrer Tochter sagen.’

WS 17: Gung, wiſſer ſa god un twidder dien ſchwester, ju ſull da Kloder var jo Memm klor ſieh un mit’n Böſſel keim makki. ‘Geh, sei so gut und sag Deiner Schwester, sie sollte die Kleider für eure Mutter fertig nähen und mit der Bürste rein machen.’

Eine Zusam­men­fas­sung der Beleg­for­men zeigt folgender Zeitstrahl. Die helleren qu-Felder verweisen auf die Editi­ons­jah­re der o. g. Wörter­bü­cher. Die Beschrei­bung der Daten liegt hier mehrere Jahrzehn­te in der Vergan­gen­heit, so dass die angege­be­nen qu-Formen als Relikt­be­le­ge zu werten sind. Die zeitge­nös­si­schen Daten­er­he­bun­gen aus 1878 (Wenker) und 1899 (Siebs) verweisen hingegen auf die eigent­li­che Sprach­ver­wen­dung. Das hellere tw-Feld verweist auf die bei Ehren­traut 1849 für die jüngere Genera­ti­on angesetz­te Form, die sich im allge­mei­nen Sprach­ge­brauch noch nicht etabliert hat.

Sprachwandel in moribunden Varietäten

Im Gegensatz von älterem quider und jüngerem twíder begegnet also ein Lautwan­del von velarem <qu> (lautlich /kv/ oder /kw/) zu alveo­la­rem <tw> (lautlich /tv/ oder /tw/), der sich über das 19. Jahrhun­dert hinweg erstreckt. Gleich mehrere phono­lo­gi­sche Prozesse überla­gern sich dabei und verstär­ken einander: 

Es kommt zu einer Frontie­rung, bei der der velare Plosiv /k/ zu alveo­la­rem /t/ vorver­la­gert wird. Das ist folglich eine Änderung des Artiku­la­ti­ons­orts bei gleich­zei­ti­ger Konstanz von Artiku­la­ti­ons­art und Phonation (fehlende Stimm­haf­tig­keit). Vorteil­haft ist diese Frontie­rung, weil sie, erstens, die Artiku­la­ti­ons­be­we­gung in der Lautse­quenz /kv/ (ggf. auch /kw/) verein­facht. Wie die Grafik zeigt, stehen sich /t/ und /v/ im Artiku­la­ti­ons­raum deutlich näher als /k/ und /v/ (Kontakt­as­si­mi­la­ti­on).

Darstel­lung des Artiku­la­ti­ons­raums (modifi­ziert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Konsonant); die Zahlen verweisen auf Artiku­la­ti­ons­or­te: 3 = dental, 5 = alveolar, 8 = velar.

Da im Wortin­nern mit /d/ ein weiterer alveo­la­rer Plosiv vorliegt, führt die Frontie­rung, zweitens, zu einer Konso­nan­ten­har­mo­nie. Die Tabelle fasst dies zusammen:

ProzessBeschrei­bung
Frontie­rungDer velare Plosiv /k/ wird zu einem alveo­la­ren /t/ = Änderung des Artiku­la­ti­ons­orts, Konstanz von Artiku­la­ti­ons­art und Phonation
Kontakt­as­si­mi­la­ti­onDie Lautse­quenz /kv/ wird zu /tv/, wobei /k/ sich an labioden­ta­les /v/ (ggf. auch /w/) annähert
Konso­nan­ten­har­mo­nieDer velare Anlaut /k/ wird an das alveolare /d/ im Wortin­nern angepasst

Eine sprach­ex­ter­ne Beein­flus­sung, also ein z. B. durch Sprach­kon­takt veran­lass­ter Wandel, ist nicht nachzu­wei­sen. Das Nieder­deut­sche als enge Kontakt­va­rie­tät des Ostfrie­si­schen hat seggen, wie im „Sprach­at­las des deutschen Reichs“ deutlich wird. Im ebenfalls 1878 erhobenen niederdeutschen Erhebungsbogen aus Wangerooge sind twiddientweid und twidder durch seggtsäh und seg ersetzt. Das Schrift­deut­sche, das ebenfalls als Kontakt­va­rie­tät zu gelten hat, kennt nur sagen und kann hier nicht beein­flus­send wirken. Der Wandel ist folglich endemisch, d. h. sprach­in­tern motiviert. Dass Ehren­traut (1849) ihn zunächst bei der jungen Genera­ti­on zeigt, macht deutlich, dass er in ein soziales Gefüge einge­bun­den ist und Teil eines bestimm­ten gesell­schaft­li­chen Umfelds ist.

Vor diesem Hinter­grund bietet das Ostfrie­si­sche auf Wanger­oo­ge eine sprach­his­to­ri­sche Beson­der­heit: Eine Varietät, die sich im späten 19. Jahrhun­dert ihrem Ende nähert, führt einen komplexen phono­lo­gi­schen Wandel durch. Das vermit­telt eine inter­es­san­te Perspek­ti­ve. Typischer­wei­se sind Verän­de­run­gen in spätpha­si­gen Varie­tä­ten reduk­tio­nis­tisch: Übernahme lautli­cher Eigen­scha­fen aus Kontakt­va­rie­tä­ten, Verlust von Flexi­ons­mor­pho­lo­gie, Simpli­fi­zie­rung der Syntax. Im vorlie­gen­den Fall ist jedoch kein bloßer Abbau zu beobach­ten, sondern ein Umstruk­tu­rie­rungs­pro­zess, der nicht auf externen Druck zurück­zu­füh­ren ist, sondern auf interne Ökono­mi­sie­rungs­ten­den­zen. Diese Dynamik macht das ostfrie­si­sche twíder zu einem seltenen Beispiel für Innova­ti­on im Moment des sprach­li­chen Verschwindens.

Etymologische Tiefenschärfe: Von quētha über quider zu twíder im westgermanischen Kontext

Der beschrie­be­ne Wandel von quider zu twíder im Ostfrie­si­schen lässt sich aber nicht nur phono­lo­gisch rekon­stru­ie­ren, sondern auch etymo­lo­gisch in ein weit verzweig­tes westger­ma­ni­sches Entwick­lungs­feld einordnen. Die altfrie­si­sche Form quētha gehört zu einer bereits im Indoger­ma­ni­schen angeleg­ten germa­ni­schen Verbgrup­pe (vgl. latei­nisch inquit ‘er/sie/es sagt’), die in zahlrei­chen Einzel­spra­chen in teilweise sehr unter­schied­li­chen Laut- und Bedeu­tungs­ent­wick­lun­gen zu belegen ist. 

Sogar das Althochdeutsche kennt mit quedan ein starkes Verb ‘sagen, sprechen’, das zwar heute nicht mehr existiert, aber noch im Mittelhochdeutschen als quëden, im Mittel­nie­der­deut­schen als quēden und im Frühneuhochdeutschen als kedenköden weiter­lebt, wenn es auch „im absterben begriffen“ ist, wie das Deutsche Wörterbuch feststellt. Die <u>-losen Formen im Frühneu­hoch­deut­schen verweisen auf den Ausfall des labio-dentalen Frikativs (s. die Grafik oben) und deuten damit einen anderen phono­lo­gi­schen Prozess an; keine Frontie­rung, sondern eine Elision (Lautaus­fall), die ebenfalls eine Ausspra­cheer­leich­te­rung darstellt, da auch hiermit der lange Artiku­la­ti­ons­weg aufge­ge­ben wird. Fachsprach­lich ist das Wort keden im „Deutschen Rechtswörterbuch“ noch bis ins 18. Jahrhun­dert belegt. Nach Ausweis des Althoch­deut­schen Wörter­buchs ist es relikt­haft auch in den deutschen Dialekten nachweis­bar (z. B. schwä­bisch keden, bairisch keden, schwei­zer­deutsch chīden), der „Sprach­at­las des deutschen Reichs“ führt diese Formen im späten 19. Jahrhun­dert aber nicht mehr. Hingegen belegt Tschinkel (1908: 116) keden für die Sprach­in­sel in der Gottschee (Slowenien). Das „Rheini­sche Wörter­buch“ belegt queden.

Genea­lo­gisch sind diese Formen mit z. B. alteng­lisch cweðan, gotisch qiþan, altsäch­sisch quethan, altnor­disch kveða und eben altfrie­sisch quētha verwandt. Dem zur Seite stehen die bei Winkler bereits angedeu­te­ten nordger­ma­ni­schen Formen des Typs dänisch quäde, schwe­disch quäda, norwe­gisch kvede. In der Karte sind diese und weitere Formen auf der Grundlage der Beschrei­bung des „Deutschen Wörterbuchs“ zusam­men­ge­tra­gen. Einge­tra­gen ist auch nieder­län­disch ketteren ‘toben, schimpfen’, das in das etymo­lo­gi­sche Feld gehört.

Entspre­chun­gen von altsäch­sisch quethan in germa­ni­schen Varie­tä­ten; rot = Nordger­ma­nisch, lila = Friesisch, blau = Westger­ma­nisch (ohne Friesisch)

Diese gemein­sa­me Herkunft bildet den Rahmen für die Entwick­lung im Ostfrie­si­schen. Die Form quider ist eine reguläre, morpho­lo­gisch einge­bet­te­te Fortset­zung von quētha. Der Wandel zu twíder im 19. Jahrhun­dert bedeutet somit nicht die Abkehr von dieser Tradition, sondern deren lautliche Fortschreibung. 

Bemer­kens­wert ist, dass der Wandel von kw- zu tw- formal parallel und zeitlich nachge­la­gert zu einer Entwick­lung im Engli­schen verläuft, aller­dings mit unter­schied­li­cher seman­ti­scher Ausprä­gung. Während sich im Engli­schen aus cweðan über cwedian u. a. das Verb to quote entwi­ckelt hat (mit Bedeu­tungs­ver­schie­bung in Richtung ‘zitieren’), steht to twitter für ‘zwitschern’. Beide Verben (quote und twitter) reprä­sen­tie­ren damit unter­schied­li­che seman­ti­sche Entwick­lun­gen innerhalb des beschrie­be­nen lautli­chen Umstrukturierungsprozesses.

Diese lautliche Tendenz findet sich auch im Deutschen beim Wort zwitschern wieder (aus ahd. zwizzarōn, wobei zw- über die Zweite Lautverschiebung auf tw- zurück­zu­füh­ren ist). Der friesi­sche Wandel quider > twíder ist daher nicht nur ein isolier­ter phono­lo­gi­scher Prozess, sondern Teil einer tief verwur­zel­ten, germa­ni­schen Entwick­lung, die bereits im Frühmit­tel­al­ter diver­gen­te Pfade nahm und sich im 19. Jahrhun­dert auf der Insel Wanger­oo­ge – in einem letzten dokumen­tier­ten Moment der Sprach­ver­wen­dung – erneut manifestiert.

Zur Frage der Lautmalerei

Die englische Form twitter wird in etymo­lo­gi­schen Quellen häufig als lautmalerisch klassi­fi­ziert („imitative origin“ im Oxford English Dictionary und im Middle English Compendium), und zwar in Anlehnung an Vogel­stim­men, ähnlich dem bereits angespro­che­nen deutschen Wort zwitschern, das ebenfalls lautma­le­risch begründet wird. Diese Deutung greift jedoch nach der obigen Darstel­lung zu kurz. Der Wandel von quider zu twíder im Wanger­oo­ger Friesi­schen zeigt vielmehr, dass die Abfolge tw- ein Ergebnis regulärer phono­lo­gi­scher Prozesse ist, insbe­son­de­re der Frontie­rung von /k/ zu /t/ im Kontext von /v/ oder /w/. Der Wandel ist also nicht Ausdruck bloßer Imitation von Natur­lau­ten, sondern entspricht einem syste­ma­ti­schen Lautwan­del, wie er in mehreren germa­ni­schen Sprachen fassbar ist. Die Beson­der­heit ist vielmehr, dass die artiku­la­to­ri­sche Verein­fa­chung über eine Frontie­rung verläuft und nicht über die Elision des labio-dentalen /v/, wie er in verschie­de­nen Dialekten und Sprachen über die Form keden o. ä. belegt ist.

Das gilt auch für zwitschern. Der Anlaut zw- ist wie schon angedeu­tet auf germa­ni­sches tw- zurück­zu­füh­ren, vermit­telt über die Zweite Lautver­schie­bung (germ. t > im Anlaut ahd. z). Zugrunde liegt also eine germa­ni­sche Form *twett- oder *twitt-, die sich ihrer­seits in das oben beschrie­be­ne Gefüge einbindet. Lautma­le­ri­sche Tendenzen mögen den Prozess verstärkt oder seman­tisch gerahmt haben, doch ist der struk­tu­rel­le Wandel phono­lo­gisch motiviert. Für das Singen der Vögel findet sich in ten Doornkaat Koolman (1884: 416) statt­des­sen eine – abermals lautma­le­risch begrün­de­te – ostfrie­si­sche Form tirliren, die durchaus produktiv zu sein scheint, wenn man die aufge­führ­te Ableitung ferti­li­ren ‘verjubeln’ berücksichtigt. 

Die Wanger­oo­ger Daten liefern somit ein argumen­ta­ti­ves Gegen­ge­wicht zur Reduktion solcher Formen auf Onoma­to­poe­tik und verweisen auf eine tiefere genea­lo­gi­sche Struktur im westger­ma­ni­schen Lautwan­del. Nur nebenbei sei erwähnt, dass sich in dieser Auslegung – und unter Berück­sich­ti­gung z. B. des oben erwähnten nieder­län­di­schen ketteren – auch das deutsche Wort zetern in das Wortfeld einordnen lässt, was in den etymologischen Wörterbüchern bislang übersehen wurde. Hier lässt sich mit der Kombi­na­ti­on von Frontie­rung und Elision argumentieren.

Fazit

Dass die Entwick­lung von quider zu twíder im Ostfrie­si­schen zu einer Zeit auftritt, in der die Sprache bereits keine gesicher­te Trans­mis­si­ons­ba­sis mehr hat, zeigt, wie phono­lo­gi­scher Wandel auch in moribun­den Varie­tä­ten nicht nur als Abbau­pro­zess, sondern als struk­tu­rier­ter Umbau statt­fin­den kann. Dieser Prozess ist aller­dings kein isolier­tes Lautphä­no­men. Vielmehr steht er im Kontext eines größeren (west-)germanischen Erbes. Die zugrun­de­lie­gen­de Wurzel hat in den verschie­de­nen Einzel­spra­chen unter­schied­li­che Wege genommen. Die Ausspra­cheer­leich­te­rung der betrach­te­ten /kv/-Sequenz weist im typolo­gi­schen Vergleich zwei Wege auf, nämlich Frontie­rung und Elision. Das Ostfrie­si­sche schlägt um die Mitte des 19. Jahrhun­derts den Frontie­rungs­weg ein und wählt damit die phono­lo­gisch markier­te­re Variante, die z. B. im Engli­schen eine seman­ti­sche Modifi­ka­ti­on ermög­licht hat. Im Ostfrie­si­schen erfolgt ein später Anschluss an diese Entwick­lung, wobei der Prozess auf der phono­lo­gi­schen Ebene verankert bleibt: Die Form twíder reiht sich lautlich ein in die Struktur von twitter und zwitschern, bleibt aber seman­tisch im Bereich des Sagens. Die in englisch twitter belegte Bedeu­tungs­ver­la­ge­rung bleibt aus. Damit stellt der friesi­sche Fall ein bemer­kens­wer­tes Beispiel für Sprach­wan­del am Rand des Sprach­ver­falls dar, aber auch für die Tiefe etymo­lo­gi­scher Struk­tu­ren, die quer durch die germa­ni­schen Sprachen wirken. In ihren letzten altfrie­si­schen Sprech­ak­ten haben die Ostfrie­sen damit ein Stück germa­ni­scher Sprach­ge­schich­te fortgeschrieben. 

Literatur

Ehren­traut, Heinrich Georg (1849): Mitthei­lun­gen aus der Sprache der Wange­ro­ger. In: Friesi­sches Archiv 1. Oldenburg.

Firmenich, Johann Matthias (1843, 1846, 1854): Germa­ni­ens Völker­stim­men. Sammlung der deutschen Mundarten in Dichtun­gen, Sagen, Märchen, Volks­lie­dern usw. Bde. 1–3. Berlin.

Siebs, Theodor (1923): Vom ausster­ben­den Friesisch der Insel Wangeroog. In: Zeitschrift für Deutsche Mundarten 18(3/4), 237–253.

Stüren­burg, Cirk Heinrich (1862): Ostfrie­si­sches Wörter­buch. Aurich: Louis Spielmeyer.

ten Dornkaat Koolman, Jan (1884): Wörter­buch der ostfrie­si­schen Sprache. Dritter Band. Norden: Braams.

Tschinkel, Hans (1908): Grammatik der Gottscheer Mundart. Halle a.d.S.: Niemeyer.

Winkler, Johann (1874): Algemeen neder­duit­sch en friesch dialec­ti­con. Bd. 1. ’s Graven­ha­ge: Nijhoff.

Diesen Beitrag zitieren als

Lameli, Alfred. 2025. Twittern im Ostfrie­si­schen – Phono­lo­gi­scher Umbau und typolo­gi­sche Konver­genz in einer unter­ge­hen­den Sprache des 19. Jahrhun­derts. In: Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 5(6). https://doi.org/10.57712/2025-06

Alfred Lameli
Alfred Lameli ist Direktor des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas und Professor für Germanistische Sprachwissenwissenschaft mit dem Schwerpunkt Regionalsprachenforschung an der Universität Marburg.