Trotz intensiver Studien zum einsprachigen sowie mehrsprachigen Erstspracherwerb besteht eine markante Forschungslücke hinsichtlich des Erwerbs von Sprachvarianten bzw. ‑varietäten in einem sprachlichen Umfeld, das sowohl vom lokalen oder regionalen Dialekt als auch von der Standardsprache geprägt ist. Diese bivarietäre oder bilektale Sprachsituation kennzeichnet z. B. viele deutschsprachige Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die sprachliche Nähe dieser Varietäten schafft dabei dynamische Bedingungen, die sich vom Erwerb distinkter Sprachen in typischen multilingualen Kontexten (z. B. Deutsch vs. Türkisch) unterscheiden.
Das Projekt LAVA (Language Acquisition across varieties in the Alemannic area), das hier vorgestellt wird, zielt nun erstmals darauf ab, Erwerbsprozesse in dieser komplexen sprachlichen Umgebung systematisch zu untersuchen. Konkret werden sprachliche und variative Fähigkeiten und Wahrnehmungen von Kindern im Alter von 2 bis 8 Jahren aus alemannischsprachigen Regionen der sog. D‑A-CH-Länder (Deutschland, Österreich, Schweiz) systematisch erfasst und analysiert. Das Projekt fokussiert auf die Sprachverwendung, den Schriftspracherwerb, mentale Repräsentationen, die Perzeption und die soziale Bewertung bezüglich der in diesen Ländern in der erweiterten Bodenseeregion gesprochenen Varietäten sowie die sprachliche Kompetenz in diesen Varietäten.
Relevanz und gesellschaftlicher Hintergrund
In der Schweiz ist der lokale Dialekt dominante Alltagssprache, in Deutschland hingegen konkurriert er stark mit dem gesprochenen Standarddeutsch, während in Österreich eine intermediäre Situation besteht. Es ist davon auszugehen, dass Variationsverhältnisse maßgeblich beeinflussen, wie Kinder Sprachunterschiede wahrnehmen, verarbeiten und in ihren aktiven Sprachgebrauch integrieren. Gleichzeitig wirkt sich die unterschiedliche Situation in den Ländern auf die Bildung sprachlicher Normen und die Entwicklung von Sprachloyalitäten und ‑präferenzen aus. Wie sich dies in einer frühen Erwerbsphase gestaltet, will LAVA erschließen.
Ein vertieftes Verständnis dieser Zusammenhänge ist nicht nur für die Grundlagenforschung bedeutsam, sondern besitzt auch hohe Relevanz für angewandte Bereiche wie die Sprachtherapie und Sprachdiagnostik. Derzeit existieren keine normierten Verfahren zur umfassenden Beurteilung des Spracherwerbs bei Kindern aus dialektgeprägten Regionen – ein Umstand, der leicht zu Fehldiagnosen und unangemessenen Fördermaßnahmen führen kann. Ein Kind, das in Deutschland etwa den Plural von Punkt als Pünkt bildet, ist in seinem Sprachentwicklungsstand anders zu bewerten als ein Kind aus der Schweiz, wo diese Variante dialektal möglich ist.
Vor diesem Hintergrund sollen die in LAVA entstehenden Daten und Erkenntnisse künftige Studien zu Bildungsbenachteiligung, Inklusion und sprachlicher Diversität fundieren und Impulse für die Weiterentwicklung von Bildungs- und Sprachdiagnostiksystemen in mehrsprachigen und mehrvarietären Gesellschaften liefern.
Forschungsfragen und Methoden
Das Projekt verfolgt drei zentrale Fragestellungen:
- Welche Meilensteine, d. h. welche Entwicklungsphasen, lassen sich im Erwerb der beiden Sprachvarietäten Dialekt und Standardsprache identifizieren?
- Wie entwickelt sich die Wahrnehmung, die soziale Bewertung und das implizite Wissen über situationsadäquate Sprachverwendung?
- Inwiefern lassen sich auf Basis der in LAVA erhobenen Daten Muster in der Strukturierung und im Gebrauch (schrift-)sprachlicher Repertoires abbilden, die auf eine systematische Koexistenz und funktionale Differenzierung der Varietäten hindeuten?
Um diesen Fragestellungen nachzugehen, wird ein interdisziplinäres Methodenspektrum angewandt, das Verfahren aus der Soziolinguistik, Psycholinguistik und Sprachverarbeitung integriert. Die Datenerhebung erfolgt in Kindergärten und Grundschulen der alemannischsprachigen Bodenseeregion in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Neben dem Einholen von umfangreichen Informationen über die Kinder und ihre Spracherwerbssituation durch die Eltern gehen wir dabei folgendermaßen vor:
Sprachproduktion
Mithilfe standardisierter Erhebungsinstrumente sowie durch Analyse von Spontansprache und elizitierter Produktion wird die aktive Sprachverwendung erfasst. Dabei werden sowohl lexikalische, morphosyntaktische als auch phonologische Merkmale berücksichtigt. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Frage, ob und wie Kinder kontextabhängig zwischen den Varietäten umschalten (Varietätenwechsel) und welche Register sie ab welchem Alter für verschiedene kommunikative Situationen entwickeln. Inwieweit sich die unterschiedlichen Variationsverhältnisse schließlich auf den Schriftspracherwerb auswirken, wird ebenfalls betrachtet.

Sprachwahrnehmung
Perzeptionsstudien untersuchen die Fähigkeit der Kinder, Dialekt und Standardsprache zu unterscheiden. Dazu werden Audioaufnahmen z. B. mit kontrollierten lexikalischen und phonologischen Stimuli eingesetzt. Die Studien analysieren insbesondere das Erkennen und die Zuordnung sprachlicher Kategorien bei strukturell ähnlichen, aber varietätenabhängigen Äußerungen.
Soziale Bewertung und metasprachliches Wissen
Ergänzend wird das soziale Wissen der Kinder über die Varietäten erfasst. In spielerischen Zuordnungs- und Evaluationsaufgaben äußern Kinder Einschätzungen zu Sprachaufnahmen fingierter Sprecherprofile (z. B. klug, freundlich). Ziel ist es vor allem, Aussagen über die Internalisierung sprachlicher Normen und Prestigezuschreibungen zu gewinnen.
Innovation und Beitrag zum Forschungsstand
Das Projekt leistet auf mehreren Ebenen einen innovativen Beitrag zur Spracherwerbsforschung im bilektalen Kontext. Zunächst einmal schließt es eine empirische Forschungslücke zum Spracherwerb in Konstellationen, in denen die untersuchten Varietäten linguistisch eng verwandt sind, jedoch unterschiedliche soziale Funktionen erfüllen. Außerdem berücksichtigt es erstmals systematisch die unterschiedlichen Erwerbskontexte innerhalb des gleichen Dialektraums über Ländergrenzen hinweg. Es führt linguistische, psycholinguistische und soziolinguistische Perspektiven zusammen und integriert diese methodisch in einem multimodalen Forschungsdesign. Und schließlich trägt es zur Entwicklung diagnostischer Verfahren bei, die auf die spezifischen Bedingungen des kindlichen Spracherwerbs in mehrvarietären Umgebungen zugeschnitten sind.
Erwartete Ergebnisse
Die zu erwartenden Ergebnisse lassen sich in drei zentralen Bereichen zusammenfassen. Erstens werden deskriptive Basisdaten erhoben, die die Erwerbsreihenfolge und ‑dynamiken sowohl im Dialekt als auch in der Standardsprache bei Kindern im Alter zwischen zwei und acht Jahren dokumentieren. Dabei ist mit einer erheblichen individuellen sowie kontextabhängigen Variation zu rechnen. Zweitens ergeben sich theoretische Einsichten in Form differenzierter Modelle zur Erklärung des Varietäten- und Variationserwerbs. Diese berücksichtigen zentrale Einflussfaktoren wie die Qualität und Frequenz des sprachlichen Inputs, soziale Bewertungen der Varietäten sowie institutionelle Rahmenbedingungen. Drittens wird eine anwendungsorientierte Perspektive verfolgt, die die Entwicklung einer öffentlich zugänglichen Datenbank mit Normdaten für Kinder aus dialektal geprägten Regionen umfasst. Ergänzend dazu sollen Empfehlungen für pädagogische und sprachtherapeutische Maßnahmen abgeleitet werden.
Beteiligte Institutionen, Förderung und Expertise
Das Projekt wird getragen von einem international vernetzten Team aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, das umfassende Expertise in den Bereichen kindlicher Spracherwerb, Sprachvariation, Diagnostik, Schriftspracherwerb und Soziolinguistik einbringt. Die federführenden Einrichtungen sind die Philipps-Universität Marburg mit dem Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas und dem Institut für Germanistische Sprachwissenschaft (Deutschland), die Pädagogische Hochschule Weingarten (Deutschland), die Universität Salzburg (Österreich) und die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich (Schweiz). Gefördert wird das Projekt gemeinsam durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), den österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) und den Schweizerischen Nationalfonds (SNF).
Diesen Beitrag zitieren als
Bohnert-Kraus, Mirja, Domahs, Ulrike, Ender, Andrea, Ganswindt, Brigitte, Kaiser, Irmtraud, Lameli, Alfred & Löffler, Cordula. 2025. Spracherwerb im Spannungsfeld von Dialekt und Standardsprache. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 5(11). https://doi.org/10.57712/2025-11

