{der-} in Österreich: Regionale Spaltung anhand von {der-}Archetypen

Als Präfix bezeich­net man Vorsilben, die an den Anfang eines Wortes gestellt werden und dieses in seinem Bedeu­tungs­um­fang erweitern bzw. abwandeln. Öster­reich tut sich hier mit sogenann­ten dental­an­lau­ten­den ([t]- oder [d]-)Bildungen am Verb besonders hervor und ist als ein Land mit großflä­chig bairi­schen Dialekten (neben den aleman­ni­schen in Vorarl­berg) vertreten, wenn das {der-}Präfix als typisch bairische Kennphra­se (Shibboleth) bezeich­net wird (Eichinger 1999: 61). Im Folgenden werden die verschie­de­nen Verwen­dungs­wei­sen, wissen­schaft­li­chen Ausein­an­der­set­zun­gen und das Projekt „Heast, sog amoi!“ zur Erfor­schung der {der-}Präfigierung und weiterer Phänomene der gespro­che­nen Sprache in Öster­reich vorgestellt.

Auffind­bar ist das {der-}Präfix auf bairisch-österreichischem Sprach­ge­biet bereits in Texten aus dem 12. Jahrhun­dert, so findet man bereits in einem mundart­lich verfass­ten Werk dersclouc für (d)erschlagen oder derli­uh­tet für erleuch­tet vor (Grazer Handschrift 1501 G 220, 16 nach Ahldén 1953: 6). Die Worther­kunft des Präfixes lässt sich nicht genau bestimmen. Einer­seits wird ein primär lautli­cher Wandel zu Dental­an­lau­ten in Kontexten von {er-}, {ver-}, {zer-} angenom­men (Bauer 1997: 130–132), während anderer­seits eine Verschmel­zung mit {durch} als möglicher Ursprung disku­tiert wird (Ahldén 1953: 137–138).

Zu den unterschiedlichen Verwendungen des {der-}Präfixes im Gesprochenen

Wir finden das gespro­chen­sprach­lich als [da] reali­sier­te {der-}Präfix1 oftmals dort, wo wir standard­sprach­lich die Präfixe {er-}, {ver-} und {zer-} sehen können (Eichinger 1999: 61) wie in den Beispie­len (1) bis (3).

(1) {er-}: erwischen als dawischen, erraten als darotn, erleben als dale(b)m …
(2) {ver-}: verfaulen als dafaulen, verhungern als dahungern, verwelken als dawökn…
(3) {zer-}: zerstechen als dastechen, zerbröseln als dabresln, zerstoßen als dastoßn

Finden wir das {der-}Präfix an Verben, die im Schrift­sprach­li­chen kein Präfix-Äquivalent aufweisen, handelt es sich zumeist um ein gramma­ti­ka­li­sier­tes Präfix, das eine besondere Art und Weise ausdrückt. Für Beispiel (4) existiert etwa kein standard­sprach­li­ches Äquiva­lent *erschnei­den und drückt hier die Fähigkeit etwas schneiden bzw. nicht schneiden zu können aus (s. u. Archetyp ERREICHEN). In Vergan­gen­heits­kon­tex­ten wie in Beispiel (5) kann {der-} auch als Ersatz für das Partizip II-{ge-} fungieren.

(4) {Ø-}: Ich kann es nicht (durch / fertig) schneiden als I daschneid des net.
(5) {ge-}: Da ist der Blitz eingeschlagen als Da is da Blitz eindaschlogn.2

Daten zu einer klaren regio­na­len Vertei­lung oder der Häufig­keit auf einzelne Verben wurden bislang nicht erhoben. Betrach­tet man aller­dings ganze Verbgrup­pen, sehen wir, dass {der-}präfigierte Formen häufig dann reali­siert werden, wenn ein zerstör­tes Resultat ausge­wie­sen werden soll, weswegen man auch von typisch bairi­schen „Tötungs­ver­ben“ spricht (Sonnhau­ser 2012: 71). Das {zer-}Präfix wäre die im Standard bevor­zug­te Variante.

So finden sich etwa bereits bei Georg Wenkers Frage­bo­gen­er­he­bung für den Satz 14 Mein liebes Kind, bleib hier unten stehen, die Gänse beißen Dich todt., welcher mit zerbeißen umschrie­ben werden könnte, statt­des­sen häufiger ein {der-}Präfix wie bspw. in der Gemeinde Abtenau mit Mei liabs Kind, bleib kroad schön int steh(n) sist dabeistnd die dö bese Gens! (vgl. Abb. 1).


Ein Auszug aus einem Wenkerbogen der Gemeinde Abtenau mit einem Fokus auf dem Wort "dabeisnd".
Abb. 1: Wenker­satz 14 aus der Gemeinde Abtenau (Salzburg) [Link zum Original in der Wenkerbogen-Transliterations-App]

Die Wenkerbogen-Übersetzungen entstam­men einem Großpro­jekt Ende des 19. Jahrhun­derts, welches sich zum Ziel setzte, die Dialekte des Deutschen zu erheben und die Karten des „Sprachatlas des deutschen Reichs“ hervor­brach­te. Dabei wurden posta­lisch an Lehrper­so­nal der verschie­de­nen Gemeinden im deutsch­spra­chi­gen Raum Bögen (mit (je nach Region) 38, 40 bzw. 42 vorge­fer­tig­ten Sätzen) mit der Bitte versendet, diese aus dem Standard in den Ortsdia­lekt zu überset­zen. Die origi­na­len Wenker­bö­gen werden im Forschungs­zen­trum Deutscher Sprach­at­las in Marburg archi­viert und sind auch heute noch eine beliebte Vergleichs­ba­sis bei der Erfor­schung von regio­na­len Sprachwandelphänomenen.

Das Beispiel aus Abb. 1 zeigt, dass tot beißen etwa mit dabeißndt übersetzt werden kann. Weder für das {er-} noch das {ver-}Präfix weisen die Wenker­sät­ze geeignete Satzkon­tex­te auf, die in gespro­chen­sprach­li­chen Überset­zun­gen {der-}Präfixe hervor­brin­gen. Aufgrund der bisher nur wenigen angefer­tig­ten Verschrift­li­chun­gen der handge­schrie­be­nen Antwort­bö­gen in der Wenkerbogen-Transliterations-App auf dem hier relevan­ten öster­rei­chi­schen Sprach­ge­biet muss hier auf eine ausführ­li­che­re histo­ri­sche Betrach­tung verzich­tet werden.

Bekannt ist, dass wir das {der-}Präfix auch in Kontexten finden, die im Standard­deut­schen nicht zulässig sind bzw. von der dortigen Bedeutung abweichen wie bspw. in den geflü­gel­ten Worten Dastunken is nu koana, dafrorn san scho vü (Erstunken ist noch keiner, erfroren sind schon viele). Dastunken ist hier nicht bedeu­tungs­gleich mit dem heute nicht mehr gebräuch­li­chen erstinken (ʻanfangen zu stinken’), sondern fokus­siert analog zu erfrieren das Mittel zu einem Resul­tats­zu­stand ʻdurch Kälte/Gestank sterben’.

Man unter­schei­det also {der-}Vorkommen, die die Bedeutung eines Verbums an sich abändern (trinken vs. ertrinken, analog zu frieren vs. erfrieren) und jene, die auf einer gramma­ti­schen Ebene zur Bedeutung einer Äußerung beitragen. Beispiels­wei­se kann dasaufn sowohl ʻersaufen/ertrinkenʼ bedeuten wie in Beispiel (6), aber auch eine resul­tats­fo­kus­sie­ren­de Form des ʻ(nicht) vollstän­dig (aus)trinken können’ darstel­len wie in Beispiel (7). Beide Formen existie­ren neben­ein­an­der und können nur durch ihren Kontext aufgelöst werden. 

(6) Er is beim Schwimma dasoffn.
(7) Es woar so grauslich. I hob des Bier net dasoffn.

Die Form in Beispiel (7) ist somit kein lautli­cher Ersatz bzw. keine lautliche Erwei­te­rung, sondern trägt eine funktio­na­le Kompo­nen­te, in dem dadurch ein schwie­ri­ger Weg bis zum Ziel bzw. das ERREICHEN dessen in den Fokus der Aussage gerückt wird. Merkle (1976: 84) spricht hier von einer produk­ti­ven Art, um Erfolgs­ver­ben mittels {der-}Präfigierung zu bilden. Besonders häufig treten diese aller­dings in negierten Satzkon­tex­ten auf, in denen ein geschei­ter­ter Versuch (ein Nicht-ERREICHEN) ausge­drückt wird. Sonnhau­ser (2012: 78) führt die Beispiele (8a) bis (8c) an, die hier zur Veran­schau­li­chung um die Satzkon­tex­te (9) und (10) erweitert wurden:

(8a) Ich habe das Buch nicht gelesen.
(8b) Ich habe das Buch nicht fertig gelesen.
(8c) Ich habe das Buch nicht derlesen.
(9)? Ich habe das Buch derlesen.3
(10) Ich habe das Buch in nur einem Tag derlesen.

Das Beispiel (9) stellt für das {der-}Präfix einen weniger produk­ti­ven Kontext dar, da hier die Mühe sowie der poten­ti­el­le Erfolg hinter der Tätigkeit nicht im Fokus des Geschehen steht. Hingegen bietet Beispiel (10) durch die Zeitan­ga­be in nur einem Tag einen geeig­ne­te­ren Kontext, um eine erfolgs­ori­en­tier­te Perspek­ti­vie­rung statt der fakti­schen Aussagen in (8c) zu erreichen.

Überblick: Vier Archetypen zur Kategorisierung von Verbgruppen und Anwendungsmöglichkeiten der {der-}Präfigierung

Eichinger (1999: 69) unter­schei­det vier Arten der {der-}Präfigierung, wobei eine Grenz­zie­hung für alle Beleg­kon­tex­te nicht immer eindeutig ist. Es finden sich keine direkten Entspre­chun­gen zwischen Formen der Standard­äqui­va­len­te und der nachfol­gen­den Typen­ein­ord­nung – etwa lassen sich nicht alle {er-} oder {zer-}präfigierten Verben einer einzigen Klasse zuordnen.4
Grund­sätz­lich finden wir das {der-}Präfix einer­seits in Worten wie erschre­cken und erkennen wieder, mit denen wir einen sehr plötzlich eintre­ten­den punktu­el­len Zustands­wech­sel in Verbin­dung bringen. Man derschreckt sich nicht stunden­lang und derkennt jemanden nicht über längere Zeiträume hinweg. Eichinger (1999: 69) bezeich­net diese Fälle mit dem Archetyp ERSCHRECKEN, der auch den Beispie­len aus (1) erwischen und erraten zugrunde liegt.

Mit derpacken soll der (vollstän­di­ge und abgeschlos­se­ne) Endzu­stand einer Handlung (das Resultat) in den Vorder­grund gerückt werden. Diese Fälle sind dem Archetyp ERGREIFEN nach Eichinger (1999: 69) zuzuwei­sen. Hier sind insbe­son­de­re die Zerstö­rungs­ver­ben zu nennen, aber auch Formen wie (auf-)dergessen oder derwarten.

Nutzen wir Worte wie derbröseln und dermatschen, deutet diese Wortbil­dung darauf hin, dass etwas erst durch die Handlung in einen anderen Zustand überführt wird (ʻzu Brösel/Matsch machen’) und sprechen von Resul­ta­ti­vi­tät. Eichinger (1999: 69) führt hier den Archetyp ERLEDIGEN an, wie er auch Beispiel (2) mit zerbrößeln zugrunde liegt.

Abschlie­ßend kann auch die Modalität von ʻetwas (nicht) können’ ausge­drückt werden, was dem Archetyp ERREICHEN (Eichinger 1999: 69) entspricht, wobei diese nicht auf die allge­mei­ne Fähigkeit eines Aktanten, sondern für eine bestimmte Situation definiert wird: Wir dertragen die Säcke heute nicht nach Hause (denn man ist gerade erschöpft oder die Säcke sind besonders unhand­lich) oder derglauben, was gerade gesagt wird nicht (ʻschaffen es (nicht) zu X’) – können uns also in der bestimm­ten Situation nicht dazu bringen eine Aktion durch­zu­füh­ren. Hierbei steht die (mühevolle) Handlung in der vorlie­gen­den Situation, nicht das Ziel oder die allge­mei­ne Fähigkeit etwas zu tun im Fokus, weswegen Sonnhau­ser (2012: 84) diese Art der Konstruk­ti­on als zirkum­stan­ti­el­le Modal­prä­fi­gie­rung (also im Sinne einer umstands­be­ding­ten Fähigkeit) bezeichnet.

Zum geogra­phi­schen Verbrei­tungs­ge­biet sowie zu den Anwen­dungs­mög­lich­kei­ten der Arche­ty­pen fehlen aktuelle Forschungs­da­ten. Beiträge von Bauer (1997), Eichinger (1999) und Sonnhau­ser (2012) geben wichtige Auskünfte und Erkennt­nis­se zu den möglichen Verwen­dungs­wei­sen und Katego­ri­sie­run­gen und weisen den Charakter des {der-}Präfixes als bairi­sches Allein­stel­lungs­merk­mal aus, behandeln aber nicht bzw. kaum die Lage im öster­rei­chi­schen Sprachgebiet.

Daten, Methode und Ziel des „Heast, sog amoi!“-Projekts

Im Rahmen des Forschungs­pro­jek­tes „Heast, sog amoi!“ werden konti­nu­ier­lich Daten zur gespro­che­nen Sprache in Öster­reich sowie angren­zen­den und sprachlich-verwandten Gebieten mittels schrift­li­cher kontex­tua­li­sier­ter Online­um­fra­gen erhoben, die regel­mä­ßig öffent­lich zugäng­lich gemacht werden. Aus den so erhobenen Daten wird ein Korpus aufgebaut, das die moderne Sprech­wei­se aller Teilneh­men­den abbildet. Die vielfäl­ti­gen Antworten können durch die Angabe der Ortszu­ge­hö­rig­keit der Teilneh­men­den geogra­phisch verortet werden, wobei bei der Bewerbung und Akquise der an der Umfrage Teilneh­men­den der Fokus auf dem öster­rei­chi­schen Sprach­ge­biet liegt. Das Umfra­ge­de­sign – nämlich ganze Sätze in einem spezi­fi­schen Dialog-Kontext überset­zen zu lassen – unter­stützt dabei vor allem die Unter­su­chung gramma­ti­scher Phänomene (wie bspw. Satzverknüpfung mit als, wie oder wo oder das hier behan­del­te funktio­na­le {der-}Präfix), wobei auch darüber hinaus Erkennt­nis­se, etwa auf Ebene des Wortschat­zes (wie bspw. zu Mais als Mais, Kukuruz, Türken oder Weiz) oder der Lautung (wie bspw. herunter als obi oder awe u. a.) gewonnen werden können. Die Teilneh­men­den verschrift­li­chen dabei ihre eigene Überset­zung von standard­sprach­li­chen Sätzen so, wie sie es wortwört­lich sagen würden. Sie versetzen sich dabei in fiktive Situa­tio­nen, überset­zen den Dialog mehrerer Personen in ihre eigene Sprech­wei­se und sind dabei frei, zu variieren bzw. weitest­ge­hend sogar gezwungen vom Standard-Input abzuweichen.

Abb. 2: Auszug aus Umfrage #5 mit beispiel­haf­ter Antwort im Freitextfeld

Die Stimulus-Sätze, die oftmals mit einer Einklam­me­run­gen von sprach­lich schwer 1:1 übersetz­ba­rem Material oder gar Lücken präsen­tiert werden, wären an sich ungram­ma­tisch. Es fehlen Artikel und die Wortstel­lung entspricht keinem akzep­ta­blen Satzmus­ter. In Abb. 2 kann etwa Variation auf der Ebene der Grammatik und Lexik (verschau­te wird zu hat sich vertan gehabt und Hack wird zu Faschier­tes) sowie der Kontex­tua­li­sie­rung und impli­zier­ten subjek­ti­ven Einschät­zung des Sprechen­den aufge­zeigt werden. Durch die Dialog­si­tua­ti­on wird etwa klar, dass hier die Absicht (hätte nehmen wollen) anstatt der (dann doch verei­tel­ten) Tätigkeit (hätte genommen) in den Fokus gerückt werden könnte. 

Den Teilneh­men­den werden also Sätze im Standard vorgelegt, für die sie mitunter gespro­chen­sprach­lich kein direktes Äquiva­lent besitzen: Formen im Präter­itum stehen den Sprechen­den in Öster­reich nicht zur Verfügung, weswegen bspw. ich konnte mit ich habe können bzw. (ge-)konnt übersetzt wird oder ich hatte es ihm gesagt mit ich habe es ihm gesagt (gehabt) ersetzt wird (vgl. Oberdeut­scher Präter­itums­schwund5). Die Infor­ma­tio­nen, die die Präter­itums­for­men (konnte und hatte) übermit­teln – nämlich Vergan­gen­heits­kon­text – sind Österreicher*innen trotz allem aus der Standard- bzw. Schrift­spra­che bekannt und werden somit als Input in den Output der Teilneh­men­den in ihren eigenen Überset­zun­gen und Paraphra­sie­run­gen übernom­men. In Abb. 3 werden beispiel­haft die Antworten auf einen zu überset­zen­den Input der Standard­spra­che darge­stellt. Hier werden die Teilneh­men­den im Rahmen des Satzes Dem hat sie dann so viel abgekauft, dass [sie es später nicht nach Hause tragen konnte] mit den Präter­itums­for­men hatte und konnte konfron­tiert, die ihnen für ihre gespro­che­ne Sprache nicht zur Verfügung stehen. Sie paraphra­sie­ren einer­seits und ergänzen anderer­seits um weitere gramma­ti­ka­li­sche Struk­tu­ren, die sie im Gespro­che­nen reali­sie­ren können – also beispiels­wei­se das funktio­na­le {der-}Präfix (Archetyp ERREICHEN).

Abb. 3: Beispiel­haf­te Antworten und deren Auswer­tun­gen auf den Standard-Input aus dem „Heast, sog amoi!“-Projekt

Ziel dieses Beitrags ist es, Erkennt­nis­se zur geogra­phi­schen Verbrei­tung der verschie­de­nen Ausprä­gun­gen der {der-}Präfigierung im öster­rei­chi­schen Sprach­ge­biet zu gewinnen und ggf. auch die Reali­sie­rungs­mög­lich­kei­ten einzelner Sprach­ge­mein­schaf­ten aufzu­zei­gen. Anhand der Abfrage und Auswer­tung (vgl. Abb. 3) zweier Satzkon­tex­te, die Verben enthiel­ten, die den Arche­ty­pen ERREICHEN und ERSCHRECKEN (Eichinger 1999) entspra­chen, konnten folgende Erkennt­nis­se gewonnen werden:

Die Arche­ty­pen ERREICHEN (anhand von nicht tragen können) und ERSCHRECKEN (anhand von wieder erkennen) wurden im Rahmen des Projektes bereits erhoben. Die vorge­ge­be­nen Situa­tio­nen und Verben innerhalb der kontex­tua­li­sier­ten Online­um­fra­ge unter­schei­den sich stark vonein­an­der in Bezug auf ihre zeitliche Ausprä­gung (inhärent lang vs. punktuell) und dem angenom­me­nen Grad an Agenti­vi­tät (belebt und durch (Kraft-)Aufwand vs. ohne eigenes Zutun).
Im Rahmen der Umfra­gen­aus­wer­tun­gen konnten regionale Unter­schie­de in den Antworten der Teilneh­men­den festge­stellt werden. Sie legen dar, dass die funktio­na­le Kompo­nen­te in nicht dertragen vermehrt (aller­dings nicht ausschließ­lich) in den Westmit­tel­bai­ri­schen sowie den westli­chen Gebieten der süd- und südmit­tel­bai­ri­schen Dialekte anzusie­deln ist, während wieder derkennen vor allem die östlichen Gebiete Öster­reichs umfasst. Das ungefähre Spaltungs­ge­biet vollzieht sich an der Grenze vom West- zum Ostmit­tel­bai­ri­schen, welches sich durch eine Nord-Süd-Grenze durch Oberös­ter­reich zieht. In der inter­ak­ti­ven Karte (Abb. 4) entspricht es ungefähr jenem Gebiet, in dem die gelb-kartierten derkennen-Belege aus dem Osten aufhören und weiter westlich vermehrte rot-kartierte dertragen-Belege gefunden werden können.

Abb. 4: Eine Kartie­rung der katego­ri­sier­ten Antworten von {der-} des ERREICHEN- (dertragen) vs. ERSCHRECKEN-Typus (derkennen) (Mittels Hover-Over können die verschie­de­nen Katego­rien einzeln hervor­ge­ho­ben werden.)

Der mögliche Satzkon­text wir konnten den Griller [aufgrund starken Windes] nicht anzünden für ERREICHEN lieferte kaum {der-}Belege (n=5 von 100). Sonnhau­ser (2012) disku­tier­te diesbe­züg­lich den Grad von Agenti­vi­tät, Belebt­heit und angenom­me­ner Inten­tio­na­li­tät des Subjekts im Satz: Während die Möglich­keit etwas zu tragen von einem belebten Aktanten ausgeht (aus eigener Kraft, eine Handlung zu vollfüh­ren), kann anzünden nur durch Hilfs­mit­tel (z. B. Streich­höl­zer) erreicht werden. Aller­dings können auch unbeleb­ten Subjekten Agenti­vi­tät bzw. die Fähigkeit zum Ausführen einer Handlung unter­stellt werden (wenn diese z. B. motori­siert sind), in dem etwa ein Auto oder Rasen­mä­her etwas derpacken kann, während ein Fahrrad oder eine Sense weniger geeignet für die Reali­sie­rung eines {der-}Präfixes erscheint (Sonnhau­ser 2012: 75–77). Während bei (der-)tragen keine standard­sprach­li­che Entspre­chung vorliegt (also kein *ertragen für ʻ(nicht) tragen können’ existiert), finden wir für den hier abgefrag­ten Archetyp ERSCHRECKEN auch im Standard ein {er-}präfigiertes Äquiva­lent vor, indem wir jemanden wieder erkennen (können).

Mittels schrift­li­cher Umfragen innerhalb der kontex­tua­li­sier­ten Dialog­si­tua­ti­on können auch abseits von sonst üblichen Multiple Choice-Aufgaben im Sinne von Gramma­ti­ka­li­täts­ur­tei­len weitere Infor­ma­tio­nen zur tatsäch­li­chen Verwen­dung und der Verbrei­tung der verschie­de­nen Varianten gewonnen werden. So kann jenes im „Heast, sog amoi!“-Projekt angewand­te Umfra­ge­de­sign zur Erfor­schung der öster­rei­chi­schen Dialekt­land­schaft also auch Formen elizi­tie­ren ohne diese bereits durch den (Standard-)Input zu sugge­rie­ren. Man vgl. hierzu etwa Abb. 3 und die verschie­de­nen Ausprä­gun­gen unter den Antworten auf Basis der Lautung (z. B. beim Wort Heim als ham, huam, hoam), aber auch Lexik (zerren/ziehen und schleppen anstelle von tragen) und Grammatik ({der-}Präfigierung mit oder ohne gleich­zei­ti­gem Vorkommen von können). Hierbei wird die große Formen­viel­falt, die in Multiple Choice-Aufgaben kaum abzufra­gen wären, in den Dialekten Öster­reichs auch tatsäch­lich aufge­grif­fen. Die bisher nicht behan­del­ten Arche­ty­pen ERGREIFEN (in einem nicht-idiomatisiertem Kontext; vgl. Beispiele (11) bis (13)) und ERLEDIGEN sowie die Theorie der lautli­chen Erwei­te­rung (anhand anderer Präfix- und Parti­kel­ver­ben) werden in zukünf­ti­gen Umfragen des „Heast, sog amoi!“-Projektes abgefragt.

Zusammenfassung und Desiderata in der Untersuchung
von{der-}Präfigierungen

Vermehrt benutzen die Teilneh­men­den das {der-}Präfix entweder als funktio­na­le Variante als Teil ihres gramma­ti­schen Systems für ʻ(nicht) können’ oder als eine lautliche Variante zu den hier abgefrag­ten Verben, die bereits ein Präfix {er-} verin­ner­licht haben. Sie reali­sie­ren größten­teils nur eine der beiden Verwen­dungs­wei­sen. Nur wenige Teilneh­men­de geben {der-}Formen in beiden abgefrag­ten Satzkon­tex­ten an. Regional spalten sich also die jewei­li­gen Verbrei­tungs­ge­bie­te als Vertreter des funktio­na­len {der-}Präfixes (ERREICHEN), welches gehäuft im Westen anzutref­fen ist, und eine lautliche Reali­sie­rung und {er-}Ersatz im Kontext des Archetyps ERSCHRECKEN im Osten.

Aufgrund der hohen Zahl an Idiomen – also Wortver­bin­dun­gen, die eine eigene abwei­chen­de Bedeutung übernom­men haben – ist bei der Erhebung von {der-}präfigierenden Verben Vorsicht geboten. Einige Verben des ursprüng­li­chen Archetyps ERGREIFEN scheinen eine beliebte Ausgangs­form für Idioma­ti­sie­rung zu sein und gehen dabei (häufig in negierten Kontexten) in den Archetyp ERREICHEN über, wie die Beispiele (11) bis (13) zeigen.

(11) Er hots net dapockt mit etwas derpacken für ʻetwas schaffenʼ
(12) Dea dafaungt si nimma mit sich derfangen für ʻsich erholenʼ
(13) Des daglangt ma net mit etwas daglangt für ʻ(aus-)reichenʼ aus (er)langen

Weitere Forschungs­lü­cken bestehen momentan bezüglich der möglichen Inter­ak­ti­on von Tempus (also der skizzier­ten zeitli­chen Abfolge von Ereig­nis­sen), der zusam­men­ge­setz­ten (morpho­lo­gi­schen) aber auch lautli­chen (phonetisch-phonologischen)6 Form der Ausgangs­ver­ben und der Produk­ti­vi­tät des {der-}Präfixes. Im Beispiel (5) Da is da Blitz ist eindaschlogng., welches nicht im Präsens (einer Jetzt-Zeit) auffind­bar ist (*Der Blitz derschlägt ein.) sowie auch in Beispiel (13) es daglangt wird auch in der Präsens­form durch das lautlich reduzier­tem {ge-} ein Vergan­gen­heits­set­ting angedeu­tet. Im Einklang mit der bishe­ri­gen Forschungs­li­te­ra­tur lässt sich also vermuten, dass eine Zielge­rich­tet­heit sowie die Möglich­keit eine Handlung als abgeschlos­sen betrach­ten zu können für eine {der-}Produktion maßgeb­lich sind.7

Für zukünf­ti­ge Unter­su­chun­gen stellt sich die Frage, wer (welche Sprach­ge­mein­schaf­ten), was (welche Arche­ty­pen) bei welchen Formen (welche Verben oder Verbgrup­pen) in welchen Kontexten (abgeschlos­se­ne Handlun­gen in zukünf­ti­gen, zeitglei­chen oder vergan­ge­nen Situa­tio­nen) wie (etwa {der-} mit oder ohne können) umsetzt.

Literatur

Ahldén, Tage (1953). Der- = Er-. Geschich­te und Geogra­phie. Göteborg: Wetter­gren & Kerbers Förlag.

Bauer, Werner (1997). Das bairische Präfix der-. In: Wiesinger, Peter, Bauer, Werner & Peter Ernst (Hrsg.). Probleme der oberdeut­schen Dialek­to­lo­gie und Namen­kun­de. Vorträge des Sympo­si­ons zum 100. Geburts­tag von Eberhard Kranz­may­er. Wien: Edition Präsens.

Eichinger, Ludwig M. (1999). Der-. Aspek­tu­el­les Präfix und bairi­sches Shibbo­leth. In: Tatzrei­ter, Herbert, Hornung Maria & Peter Ernst (Hrsg.). Erträge der Dialek­to­lo­gie und Lexiko­gra­phie. Festgabe für Werner Bauer zum 60. Geburts­tag. Wien: Edition Präsens.

Leiss, Elisabeth (1992). Die Verbal­ka­te­go­rien des Deutschen: Ein Beitrag zur Theorie der sprach­li­chen Katego­ri­sie­rung. Berlin: Walter de Gruyter. DOI: <https://doi.org/10.1515/9783110883541>

Merkle, Ludwig (1975). Bairische Grammatik. München: Heimeran.

Sonnen­hau­ser, Barbara (2012). Zirkum­stan­ti­el­le Modalität im Bairi­schen: das verbale Präfix der-. In: Zeitschrift für Dialek­to­lo­gie und Lingu­is­tik 79.1, 65–88. URL: <https://www.jstor.org/stable/41698956> [19.08.2024; 10:40]

Abbildung 1: <https://wenker.online.uni-marburg.de/wenker/transliteration/14695> [11.06.2024; 11:30]

Projekt-Homepage: <https://heast-sog-amoi.com/> [19.08.2024; 10:40]

Diesen Beitrag zitieren als:

Hartinger, Marlene. 2024. {der-} in Öster­reich: Regionale Spaltung anhand von {der-}Archetypen. In: Sprach­spu­ren: Berichte aus dem Deutschen Sprach­at­las 4(10). https://doi.org/10.57712/2024-10


  1. Da das <r> am Silben­en­de in den öster­rei­chi­schen Dialekten grund­sätz­lich vokali­siert wird, begegnet es uns tenden­zi­ell im Gespro­chen­sprach­li­chen sowie den Verschrift­li­chun­gen eher als <da->. Für die restli­chen wissen­schaft­li­chen Ausfüh­run­gen wird der Konsis­tenz halber (mit Ausnahme von direkten Sprach­bei­spie­len) aller­dings die in der Literatur vorwie­gen­de Beschrei­bung als das morpho­lo­gi­sche Präfix {der-} auch in der Verschrif­tung <der-> übernom­men, da hier nicht die Ausspra­che, sondern die Konstruk­ti­on im Fokus steht. ↩︎
  2. Hier steht das Beispiel in einem Vergan­gen­heits­kon­text. Die Form im Präsens (*Der Blitz derschlägt ein.) wirkt hingegen ungram­ma­tisch. Siehe dazu Anmer­kun­gen im zusam­men­fas­sen­den Kapitel. ↩︎
  3. Das <?> zeigt an, dass unsicher ist, ob dieser Satz so gesagt werden könnte bzw. von den Sprecher*innen als „richtig“ empfunden werden würde.   ↩︎
  4. Ebenso gibt es Formen, die sich den nachfol­gen­den Einord­nun­gen entziehen wie bspw. dawischen, derzählen oder derlauben, deren Bedeu­tungs­ge­halt im Rahmen der nachfol­gen­den Eintei­lung über den Verlauf der Zeit nicht mehr nachvoll­zieh­bar ist (Bauer 1997: 126). ↩︎
  5. Der Oberdeut­sche Präter­itums­schwund bezeich­net ein Sprach­wan­del­phä­no­men in dem südli­che­re Varie­tä­ten des Deutschen (speziell das oberdeut­sche Sprach­ge­biet) ab der Zeit des Frühneu­hoch­deut­schen (ab ca. 1350 n. Chr.) einen Rückgang von präter­ita­len Verbfor­men verzeich­net. Formen wie ich ging werden aufge­ge­ben, während sogenann­te analy­ti­sche Perfekt­for­men (also durch ein Hilfsverb + Partizip II gebildete, statt sogenann­te synthe­ti­sche Formen, die das Verb im Inneren abwandeln) wie ich bin gegangen verstärkt Anwendung finden. ↩︎
  6. Etwa zeigte sich in der Umfra­ge­aus­wer­tung eine Tendenz gegen die {der-}Präfigierung von erinnern (121 {er-}- vs. 1 {der-}Beleg neben sonstigen Belegen; n=207). Eine Hypothese, die aller­dings weiterer Prüfung bedarf, stellt die phone­ti­sche Untrenn­bar­keit von {er-} und {innern} dar, indem eine lautliche Reali­sie­rung aufgrund des Silben­ge­lenks einem {er-} und {rinnern} gleich­kä­me und dies die gespro­chen­sprach­li­che Reali­sie­rung von Vokal zu Vokal als da- und innern mögli­cher­wei­se erschwert. ↩︎
  7. Die hierfür anwend­ba­ren Begriffe sind in der bishe­ri­gen Forschungs­li­te­ra­tur unein­deu­tig (vgl. die Diskus­si­on von Leiss 1992: 42–43 zum Begriff Perfek­ti­vi­tät sowie dahin­ge­hend Resul­ta­ti­vi­tät, Termi­na­ti­vi­tät und Mutati­vi­tät). ↩︎

Marlene Hartinger
Marlene Hartinger ist Universitätsassistenz am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. In ihrer Dissertation forscht sie mittels kontextualisierter online-Umfragen zu grammatischen Phänomenen in den Dialekten Österreichs. Bis September 2024 befindet sie sich als Junior Fellow auf einem Gastforschungsaufenthalt am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg.