Als Präfix bezeichnet man Vorsilben, die an den Anfang eines Wortes gestellt werden und dieses in seinem Bedeutungsumfang erweitern bzw. abwandeln. Österreich tut sich hier mit sogenannten dentalanlautenden ([t]- oder [d]-)Bildungen am Verb besonders hervor und ist als ein Land mit großflächig bairischen Dialekten (neben den alemannischen in Vorarlberg) vertreten, wenn das {der-}Präfix als typisch bairische Kennphrase (Shibboleth) bezeichnet wird (Eichinger 1999: 61). Im Folgenden werden die verschiedenen Verwendungsweisen, wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und das Projekt „Heast, sog amoi!“ zur Erforschung der {der-}Präfigierung und weiterer Phänomene der gesprochenen Sprache in Österreich vorgestellt.
Auffindbar ist das {der-}Präfix auf bairisch-österreichischem Sprachgebiet bereits in Texten aus dem 12. Jahrhundert, so findet man bereits in einem mundartlich verfassten Werk dersclouc für (d)erschlagen oder derliuhtet für erleuchtet vor (Grazer Handschrift 1501 G 220, 16 nach Ahldén 1953: 6). Die Wortherkunft des Präfixes lässt sich nicht genau bestimmen. Einerseits wird ein primär lautlicher Wandel zu Dentalanlauten in Kontexten von {er-}, {ver-}, {zer-} angenommen (Bauer 1997: 130–132), während andererseits eine Verschmelzung mit {durch} als möglicher Ursprung diskutiert wird (Ahldén 1953: 137–138).
Zu den unterschiedlichen Verwendungen des {der-}Präfixes im Gesprochenen
Wir finden das gesprochensprachlich als [da] realisierte {der-}Präfix1 oftmals dort, wo wir standardsprachlich die Präfixe {er-}, {ver-} und {zer-} sehen können (Eichinger 1999: 61) wie in den Beispielen (1) bis (3).
(1) {er-}: erwischen als dawischen, erraten als darotn, erleben als dale(b)m …
(2) {ver-}: verfaulen als dafaulen, verhungern als dahungern, verwelken als dawökn…
(3) {zer-}: zerstechen als dastechen, zerbröseln als dabresln, zerstoßen als dastoßn…
Finden wir das {der-}Präfix an Verben, die im Schriftsprachlichen kein Präfix-Äquivalent aufweisen, handelt es sich zumeist um ein grammatikalisiertes Präfix, das eine besondere Art und Weise ausdrückt. Für Beispiel (4) existiert etwa kein standardsprachliches Äquivalent *erschneiden und drückt hier die Fähigkeit etwas schneiden bzw. nicht schneiden zu können aus (s. u. Archetyp ERREICHEN). In Vergangenheitskontexten wie in Beispiel (5) kann {der-} auch als Ersatz für das Partizip II-{ge-} fungieren.
(4) {Ø-}: Ich kann es nicht (durch / fertig) schneiden als I daschneid des net.
(5) {ge-}: Da ist der Blitz eingeschlagen als Da is da Blitz eindaschlogn.2
Daten zu einer klaren regionalen Verteilung oder der Häufigkeit auf einzelne Verben wurden bislang nicht erhoben. Betrachtet man allerdings ganze Verbgruppen, sehen wir, dass {der-}präfigierte Formen häufig dann realisiert werden, wenn ein zerstörtes Resultat ausgewiesen werden soll, weswegen man auch von typisch bairischen „Tötungsverben“ spricht (Sonnhauser 2012: 71). Das {zer-}Präfix wäre die im Standard bevorzugte Variante.
So finden sich etwa bereits bei Georg Wenkers Fragebogenerhebung für den Satz 14 Mein liebes Kind, bleib hier unten stehen, die Gänse beißen Dich todt., welcher mit zerbeißen umschrieben werden könnte, stattdessen häufiger ein {der-}Präfix wie bspw. in der Gemeinde Abtenau mit Mei liabs Kind, bleib kroad schön int steh(n) sist dabeistnd die dö bese Gens! (vgl. Abb. 1).
Die Wenkerbogen-Übersetzungen entstammen einem Großprojekt Ende des 19. Jahrhunderts, welches sich zum Ziel setzte, die Dialekte des Deutschen zu erheben und die Karten des „Sprachatlas des deutschen Reichs“ hervorbrachte. Dabei wurden postalisch an Lehrpersonal der verschiedenen Gemeinden im deutschsprachigen Raum Bögen (mit (je nach Region) 38, 40 bzw. 42 vorgefertigten Sätzen) mit der Bitte versendet, diese aus dem Standard in den Ortsdialekt zu übersetzen. Die originalen Wenkerbögen werden im Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg archiviert und sind auch heute noch eine beliebte Vergleichsbasis bei der Erforschung von regionalen Sprachwandelphänomenen.
Das Beispiel aus Abb. 1 zeigt, dass tot beißen etwa mit dabeißndt übersetzt werden kann. Weder für das {er-} noch das {ver-}Präfix weisen die Wenkersätze geeignete Satzkontexte auf, die in gesprochensprachlichen Übersetzungen {der-}Präfixe hervorbringen. Aufgrund der bisher nur wenigen angefertigten Verschriftlichungen der handgeschriebenen Antwortbögen in der Wenkerbogen-Transliterations-App auf dem hier relevanten österreichischen Sprachgebiet muss hier auf eine ausführlichere historische Betrachtung verzichtet werden.
Bekannt ist, dass wir das {der-}Präfix auch in Kontexten finden, die im Standarddeutschen nicht zulässig sind bzw. von der dortigen Bedeutung abweichen wie bspw. in den geflügelten Worten Dastunken is nu koana, dafrorn san scho vü (Erstunken ist noch keiner, erfroren sind schon viele). Dastunken ist hier nicht bedeutungsgleich mit dem heute nicht mehr gebräuchlichen erstinken (ʻanfangen zu stinken’), sondern fokussiert analog zu erfrieren das Mittel zu einem Resultatszustand ʻdurch Kälte/Gestank sterben’.
Man unterscheidet also {der-}Vorkommen, die die Bedeutung eines Verbums an sich abändern (trinken vs. ertrinken, analog zu frieren vs. erfrieren) und jene, die auf einer grammatischen Ebene zur Bedeutung einer Äußerung beitragen. Beispielsweise kann dasaufn sowohl ʻersaufen/ertrinkenʼ bedeuten wie in Beispiel (6), aber auch eine resultatsfokussierende Form des ʻ(nicht) vollständig (aus)trinken können’ darstellen wie in Beispiel (7). Beide Formen existieren nebeneinander und können nur durch ihren Kontext aufgelöst werden.
(6) Er is beim Schwimma dasoffn.
(7) Es woar so grauslich. I hob des Bier net dasoffn.
Die Form in Beispiel (7) ist somit kein lautlicher Ersatz bzw. keine lautliche Erweiterung, sondern trägt eine funktionale Komponente, in dem dadurch ein schwieriger Weg bis zum Ziel bzw. das ERREICHEN dessen in den Fokus der Aussage gerückt wird. Merkle (1976: 84) spricht hier von einer produktiven Art, um Erfolgsverben mittels {der-}Präfigierung zu bilden. Besonders häufig treten diese allerdings in negierten Satzkontexten auf, in denen ein gescheiterter Versuch (ein Nicht-ERREICHEN) ausgedrückt wird. Sonnhauser (2012: 78) führt die Beispiele (8a) bis (8c) an, die hier zur Veranschaulichung um die Satzkontexte (9) und (10) erweitert wurden:
(8a) Ich habe das Buch nicht gelesen.
(8b) Ich habe das Buch nicht fertig gelesen.
(8c) Ich habe das Buch nicht derlesen.
(9)? Ich habe das Buch derlesen.3
(10) Ich habe das Buch in nur einem Tag derlesen.
Das Beispiel (9) stellt für das {der-}Präfix einen weniger produktiven Kontext dar, da hier die Mühe sowie der potentielle Erfolg hinter der Tätigkeit nicht im Fokus des Geschehen steht. Hingegen bietet Beispiel (10) durch die Zeitangabe in nur einem Tag einen geeigneteren Kontext, um eine erfolgsorientierte Perspektivierung statt der faktischen Aussagen in (8c) zu erreichen.
Überblick: Vier Archetypen zur Kategorisierung von Verbgruppen und Anwendungsmöglichkeiten der {der-}Präfigierung
Eichinger (1999: 69) unterscheidet vier Arten der {der-}Präfigierung, wobei eine Grenzziehung für alle Belegkontexte nicht immer eindeutig ist. Es finden sich keine direkten Entsprechungen zwischen Formen der Standardäquivalente und der nachfolgenden Typeneinordnung – etwa lassen sich nicht alle {er-} oder {zer-}präfigierten Verben einer einzigen Klasse zuordnen.4
Grundsätzlich finden wir das {der-}Präfix einerseits in Worten wie erschrecken und erkennen wieder, mit denen wir einen sehr plötzlich eintretenden punktuellen Zustandswechsel in Verbindung bringen. Man derschreckt sich nicht stundenlang und derkennt jemanden nicht über längere Zeiträume hinweg. Eichinger (1999: 69) bezeichnet diese Fälle mit dem Archetyp ERSCHRECKEN, der auch den Beispielen aus (1) erwischen und erraten zugrunde liegt.
Mit derpacken soll der (vollständige und abgeschlossene) Endzustand einer Handlung (das Resultat) in den Vordergrund gerückt werden. Diese Fälle sind dem Archetyp ERGREIFEN nach Eichinger (1999: 69) zuzuweisen. Hier sind insbesondere die Zerstörungsverben zu nennen, aber auch Formen wie (auf-)dergessen oder derwarten.
Nutzen wir Worte wie derbröseln und dermatschen, deutet diese Wortbildung darauf hin, dass etwas erst durch die Handlung in einen anderen Zustand überführt wird (ʻzu Brösel/Matsch machen’) und sprechen von Resultativität. Eichinger (1999: 69) führt hier den Archetyp ERLEDIGEN an, wie er auch Beispiel (2) mit zerbrößeln zugrunde liegt.
Abschließend kann auch die Modalität von ʻetwas (nicht) können’ ausgedrückt werden, was dem Archetyp ERREICHEN (Eichinger 1999: 69) entspricht, wobei diese nicht auf die allgemeine Fähigkeit eines Aktanten, sondern für eine bestimmte Situation definiert wird: Wir dertragen die Säcke heute nicht nach Hause (denn man ist gerade erschöpft oder die Säcke sind besonders unhandlich) oder derglauben, was gerade gesagt wird nicht (ʻschaffen es (nicht) zu X’) – können uns also in der bestimmten Situation nicht dazu bringen eine Aktion durchzuführen. Hierbei steht die (mühevolle) Handlung in der vorliegenden Situation, nicht das Ziel oder die allgemeine Fähigkeit etwas zu tun im Fokus, weswegen Sonnhauser (2012: 84) diese Art der Konstruktion als zirkumstantielle Modalpräfigierung (also im Sinne einer umstandsbedingten Fähigkeit) bezeichnet.
Zum geographischen Verbreitungsgebiet sowie zu den Anwendungsmöglichkeiten der Archetypen fehlen aktuelle Forschungsdaten. Beiträge von Bauer (1997), Eichinger (1999) und Sonnhauser (2012) geben wichtige Auskünfte und Erkenntnisse zu den möglichen Verwendungsweisen und Kategorisierungen und weisen den Charakter des {der-}Präfixes als bairisches Alleinstellungsmerkmal aus, behandeln aber nicht bzw. kaum die Lage im österreichischen Sprachgebiet.
Daten, Methode und Ziel des „Heast, sog amoi!“-Projekts
Im Rahmen des Forschungsprojektes „Heast, sog amoi!“ werden kontinuierlich Daten zur gesprochenen Sprache in Österreich sowie angrenzenden und sprachlich-verwandten Gebieten mittels schriftlicher kontextualisierter Onlineumfragen erhoben, die regelmäßig öffentlich zugänglich gemacht werden. Aus den so erhobenen Daten wird ein Korpus aufgebaut, das die moderne Sprechweise aller Teilnehmenden abbildet. Die vielfältigen Antworten können durch die Angabe der Ortszugehörigkeit der Teilnehmenden geographisch verortet werden, wobei bei der Bewerbung und Akquise der an der Umfrage Teilnehmenden der Fokus auf dem österreichischen Sprachgebiet liegt. Das Umfragedesign – nämlich ganze Sätze in einem spezifischen Dialog-Kontext übersetzen zu lassen – unterstützt dabei vor allem die Untersuchung grammatischer Phänomene (wie bspw. Satzverknüpfung mit als, wie oder wo oder das hier behandelte funktionale {der-}Präfix), wobei auch darüber hinaus Erkenntnisse, etwa auf Ebene des Wortschatzes (wie bspw. zu Mais als Mais, Kukuruz, Türken oder Weiz) oder der Lautung (wie bspw. herunter als obi oder awe u. a.) gewonnen werden können. Die Teilnehmenden verschriftlichen dabei ihre eigene Übersetzung von standardsprachlichen Sätzen so, wie sie es wortwörtlich sagen würden. Sie versetzen sich dabei in fiktive Situationen, übersetzen den Dialog mehrerer Personen in ihre eigene Sprechweise und sind dabei frei, zu variieren bzw. weitestgehend sogar gezwungen vom Standard-Input abzuweichen.
Abb. 2: Auszug aus Umfrage #5 mit beispielhafter Antwort im Freitextfeld
Die Stimulus-Sätze, die oftmals mit einer Einklammerungen von sprachlich schwer 1:1 übersetzbarem Material oder gar Lücken präsentiert werden, wären an sich ungrammatisch. Es fehlen Artikel und die Wortstellung entspricht keinem akzeptablen Satzmuster. In Abb. 2 kann etwa Variation auf der Ebene der Grammatik und Lexik (verschaute wird zu hat sich vertan gehabt und Hack wird zu Faschiertes) sowie der Kontextualisierung und implizierten subjektiven Einschätzung des Sprechenden aufgezeigt werden. Durch die Dialogsituation wird etwa klar, dass hier die Absicht (hätte nehmen wollen) anstatt der (dann doch vereitelten) Tätigkeit (hätte genommen) in den Fokus gerückt werden könnte.
Den Teilnehmenden werden also Sätze im Standard vorgelegt, für die sie mitunter gesprochensprachlich kein direktes Äquivalent besitzen: Formen im Präteritum stehen den Sprechenden in Österreich nicht zur Verfügung, weswegen bspw. ich konnte mit ich habe können bzw. (ge-)konnt übersetzt wird oder ich hatte es ihm gesagt mit ich habe es ihm gesagt (gehabt) ersetzt wird (vgl. Oberdeutscher Präteritumsschwund5). Die Informationen, die die Präteritumsformen (konnte und hatte) übermitteln – nämlich Vergangenheitskontext – sind Österreicher*innen trotz allem aus der Standard- bzw. Schriftsprache bekannt und werden somit als Input in den Output der Teilnehmenden in ihren eigenen Übersetzungen und Paraphrasierungen übernommen. In Abb. 3 werden beispielhaft die Antworten auf einen zu übersetzenden Input der Standardsprache dargestellt. Hier werden die Teilnehmenden im Rahmen des Satzes Dem hat sie dann so viel abgekauft, dass [sie es später nicht nach Hause tragen konnte] mit den Präteritumsformen hatte und konnte konfrontiert, die ihnen für ihre gesprochene Sprache nicht zur Verfügung stehen. Sie paraphrasieren einerseits und ergänzen andererseits um weitere grammatikalische Strukturen, die sie im Gesprochenen realisieren können – also beispielsweise das funktionale {der-}Präfix (Archetyp ERREICHEN).
Ziel dieses Beitrags ist es, Erkenntnisse zur geographischen Verbreitung der verschiedenen Ausprägungen der {der-}Präfigierung im österreichischen Sprachgebiet zu gewinnen und ggf. auch die Realisierungsmöglichkeiten einzelner Sprachgemeinschaften aufzuzeigen. Anhand der Abfrage und Auswertung (vgl. Abb. 3) zweier Satzkontexte, die Verben enthielten, die den Archetypen ERREICHEN und ERSCHRECKEN (Eichinger 1999) entsprachen, konnten folgende Erkenntnisse gewonnen werden:
Die Archetypen ERREICHEN (anhand von nicht tragen können) und ERSCHRECKEN (anhand von wieder erkennen) wurden im Rahmen des Projektes bereits erhoben. Die vorgegebenen Situationen und Verben innerhalb der kontextualisierten Onlineumfrage unterscheiden sich stark voneinander in Bezug auf ihre zeitliche Ausprägung (inhärent lang vs. punktuell) und dem angenommenen Grad an Agentivität (belebt und durch (Kraft-)Aufwand vs. ohne eigenes Zutun).
Im Rahmen der Umfragenauswertungen konnten regionale Unterschiede in den Antworten der Teilnehmenden festgestellt werden. Sie legen dar, dass die funktionale Komponente in nicht dertragen vermehrt (allerdings nicht ausschließlich) in den Westmittelbairischen sowie den westlichen Gebieten der süd- und südmittelbairischen Dialekte anzusiedeln ist, während wieder derkennen vor allem die östlichen Gebiete Österreichs umfasst. Das ungefähre Spaltungsgebiet vollzieht sich an der Grenze vom West- zum Ostmittelbairischen, welches sich durch eine Nord-Süd-Grenze durch Oberösterreich zieht. In der interaktiven Karte (Abb. 4) entspricht es ungefähr jenem Gebiet, in dem die gelb-kartierten derkennen-Belege aus dem Osten aufhören und weiter westlich vermehrte rot-kartierte dertragen-Belege gefunden werden können.
Abb. 4: Eine Kartierung der kategorisierten Antworten von {der-} des ERREICHEN- (dertragen) vs. ERSCHRECKEN-Typus (derkennen) (Mittels Hover-Over können die verschiedenen Kategorien einzeln hervorgehoben werden.)
Der mögliche Satzkontext wir konnten den Griller [aufgrund starken Windes] nicht anzünden für ERREICHEN lieferte kaum {der-}Belege (n=5 von 100). Sonnhauser (2012) diskutierte diesbezüglich den Grad von Agentivität, Belebtheit und angenommener Intentionalität des Subjekts im Satz: Während die Möglichkeit etwas zu tragen von einem belebten Aktanten ausgeht (aus eigener Kraft, eine Handlung zu vollführen), kann anzünden nur durch Hilfsmittel (z. B. Streichhölzer) erreicht werden. Allerdings können auch unbelebten Subjekten Agentivität bzw. die Fähigkeit zum Ausführen einer Handlung unterstellt werden (wenn diese z. B. motorisiert sind), in dem etwa ein Auto oder Rasenmäher etwas derpacken kann, während ein Fahrrad oder eine Sense weniger geeignet für die Realisierung eines {der-}Präfixes erscheint (Sonnhauser 2012: 75–77). Während bei (der-)tragen keine standardsprachliche Entsprechung vorliegt (also kein *ertragen für ʻ(nicht) tragen können’ existiert), finden wir für den hier abgefragten Archetyp ERSCHRECKEN auch im Standard ein {er-}präfigiertes Äquivalent vor, indem wir jemanden wieder erkennen (können).
Mittels schriftlicher Umfragen innerhalb der kontextualisierten Dialogsituation können auch abseits von sonst üblichen Multiple Choice-Aufgaben im Sinne von Grammatikalitätsurteilen weitere Informationen zur tatsächlichen Verwendung und der Verbreitung der verschiedenen Varianten gewonnen werden. So kann jenes im „Heast, sog amoi!“-Projekt angewandte Umfragedesign zur Erforschung der österreichischen Dialektlandschaft also auch Formen elizitieren ohne diese bereits durch den (Standard-)Input zu suggerieren. Man vgl. hierzu etwa Abb. 3 und die verschiedenen Ausprägungen unter den Antworten auf Basis der Lautung (z. B. beim Wort Heim als ham, huam, hoam), aber auch Lexik (zerren/ziehen und schleppen anstelle von tragen) und Grammatik ({der-}Präfigierung mit oder ohne gleichzeitigem Vorkommen von können). Hierbei wird die große Formenvielfalt, die in Multiple Choice-Aufgaben kaum abzufragen wären, in den Dialekten Österreichs auch tatsächlich aufgegriffen. Die bisher nicht behandelten Archetypen ERGREIFEN (in einem nicht-idiomatisiertem Kontext; vgl. Beispiele (11) bis (13)) und ERLEDIGEN sowie die Theorie der lautlichen Erweiterung (anhand anderer Präfix- und Partikelverben) werden in zukünftigen Umfragen des „Heast, sog amoi!“-Projektes abgefragt.
Zusammenfassung und Desiderata in der Untersuchung
von{der-}Präfigierungen
Vermehrt benutzen die Teilnehmenden das {der-}Präfix entweder als funktionale Variante als Teil ihres grammatischen Systems für ʻ(nicht) können’ oder als eine lautliche Variante zu den hier abgefragten Verben, die bereits ein Präfix {er-} verinnerlicht haben. Sie realisieren größtenteils nur eine der beiden Verwendungsweisen. Nur wenige Teilnehmende geben {der-}Formen in beiden abgefragten Satzkontexten an. Regional spalten sich also die jeweiligen Verbreitungsgebiete als Vertreter des funktionalen {der-}Präfixes (ERREICHEN), welches gehäuft im Westen anzutreffen ist, und eine lautliche Realisierung und {er-}Ersatz im Kontext des Archetyps ERSCHRECKEN im Osten.
Aufgrund der hohen Zahl an Idiomen – also Wortverbindungen, die eine eigene abweichende Bedeutung übernommen haben – ist bei der Erhebung von {der-}präfigierenden Verben Vorsicht geboten. Einige Verben des ursprünglichen Archetyps ERGREIFEN scheinen eine beliebte Ausgangsform für Idiomatisierung zu sein und gehen dabei (häufig in negierten Kontexten) in den Archetyp ERREICHEN über, wie die Beispiele (11) bis (13) zeigen.
(11) Er hots net dapockt mit etwas derpacken für ʻetwas schaffenʼ
(12) Dea dafaungt si nimma mit sich derfangen für ʻsich erholenʼ
(13) Des daglangt ma net mit etwas daglangt für ʻ(aus-)reichenʼ aus (er)langen
Weitere Forschungslücken bestehen momentan bezüglich der möglichen Interaktion von Tempus (also der skizzierten zeitlichen Abfolge von Ereignissen), der zusammengesetzten (morphologischen) aber auch lautlichen (phonetisch-phonologischen)6 Form der Ausgangsverben und der Produktivität des {der-}Präfixes. Im Beispiel (5) Da is da Blitz ist eindaschlogng., welches nicht im Präsens (einer Jetzt-Zeit) auffindbar ist (*Der Blitz derschlägt ein.) sowie auch in Beispiel (13) es daglangt wird auch in der Präsensform durch das lautlich reduziertem {ge-} ein Vergangenheitssetting angedeutet. Im Einklang mit der bisherigen Forschungsliteratur lässt sich also vermuten, dass eine Zielgerichtetheit sowie die Möglichkeit eine Handlung als abgeschlossen betrachten zu können für eine {der-}Produktion maßgeblich sind.7
Für zukünftige Untersuchungen stellt sich die Frage, wer (welche Sprachgemeinschaften), was (welche Archetypen) bei welchen Formen (welche Verben oder Verbgruppen) in welchen Kontexten (abgeschlossene Handlungen in zukünftigen, zeitgleichen oder vergangenen Situationen) wie (etwa {der-} mit oder ohne können) umsetzt.
Literatur
Ahldén, Tage (1953). Der- = Er-. Geschichte und Geographie. Göteborg: Wettergren & Kerbers Förlag.
Bauer, Werner (1997). Das bairische Präfix der-. In: Wiesinger, Peter, Bauer, Werner & Peter Ernst (Hrsg.). Probleme der oberdeutschen Dialektologie und Namenkunde. Vorträge des Symposions zum 100. Geburtstag von Eberhard Kranzmayer. Wien: Edition Präsens.
Eichinger, Ludwig M. (1999). Der-. Aspektuelles Präfix und bairisches Shibboleth. In: Tatzreiter, Herbert, Hornung Maria & Peter Ernst (Hrsg.). Erträge der Dialektologie und Lexikographie. Festgabe für Werner Bauer zum 60. Geburtstag. Wien: Edition Präsens.
Leiss, Elisabeth (1992). Die Verbalkategorien des Deutschen: Ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung. Berlin: Walter de Gruyter. DOI: <https://doi.org/10.1515/9783110883541>
Merkle, Ludwig (1975). Bairische Grammatik. München: Heimeran.
Sonnenhauser, Barbara (2012). Zirkumstantielle Modalität im Bairischen: das verbale Präfix der-. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 79.1, 65–88. URL: <https://www.jstor.org/stable/41698956> [19.08.2024; 10:40]
Abbildung 1: <https://wenker.online.uni-marburg.de/wenker/transliteration/14695> [11.06.2024; 11:30]
Projekt-Homepage: <https://heast-sog-amoi.com/> [19.08.2024; 10:40]
Diesen Beitrag zitieren als:
Hartinger, Marlene. 2024. {der-} in Österreich: Regionale Spaltung anhand von {der-}Archetypen. In: Sprachspuren: Berichte aus dem Deutschen Sprachatlas 4(10). https://doi.org/10.57712/2024-10
- Da das <r> am Silbenende in den österreichischen Dialekten grundsätzlich vokalisiert wird, begegnet es uns tendenziell im Gesprochensprachlichen sowie den Verschriftlichungen eher als <da->. Für die restlichen wissenschaftlichen Ausführungen wird der Konsistenz halber (mit Ausnahme von direkten Sprachbeispielen) allerdings die in der Literatur vorwiegende Beschreibung als das morphologische Präfix {der-} auch in der Verschriftung <der-> übernommen, da hier nicht die Aussprache, sondern die Konstruktion im Fokus steht. ↩︎
- Hier steht das Beispiel in einem Vergangenheitskontext. Die Form im Präsens (*Der Blitz derschlägt ein.) wirkt hingegen ungrammatisch. Siehe dazu Anmerkungen im zusammenfassenden Kapitel. ↩︎
- Das <?> zeigt an, dass unsicher ist, ob dieser Satz so gesagt werden könnte bzw. von den Sprecher*innen als „richtig“ empfunden werden würde. ↩︎
- Ebenso gibt es Formen, die sich den nachfolgenden Einordnungen entziehen wie bspw. dawischen, derzählen oder derlauben, deren Bedeutungsgehalt im Rahmen der nachfolgenden Einteilung über den Verlauf der Zeit nicht mehr nachvollziehbar ist (Bauer 1997: 126). ↩︎
- Der Oberdeutsche Präteritumsschwund bezeichnet ein Sprachwandelphänomen in dem südlichere Varietäten des Deutschen (speziell das oberdeutsche Sprachgebiet) ab der Zeit des Frühneuhochdeutschen (ab ca. 1350 n. Chr.) einen Rückgang von präteritalen Verbformen verzeichnet. Formen wie ich ging werden aufgegeben, während sogenannte analytische Perfektformen (also durch ein Hilfsverb + Partizip II gebildete, statt sogenannte synthetische Formen, die das Verb im Inneren abwandeln) wie ich bin gegangen verstärkt Anwendung finden. ↩︎
- Etwa zeigte sich in der Umfrageauswertung eine Tendenz gegen die {der-}Präfigierung von erinnern (121 {er-}- vs. 1 {der-}Beleg neben sonstigen Belegen; n=207). Eine Hypothese, die allerdings weiterer Prüfung bedarf, stellt die phonetische Untrennbarkeit von {er-} und {innern} dar, indem eine lautliche Realisierung aufgrund des Silbengelenks einem {er-} und {rinnern} gleichkäme und dies die gesprochensprachliche Realisierung von Vokal zu Vokal als da- und innern möglicherweise erschwert. ↩︎
- Die hierfür anwendbaren Begriffe sind in der bisherigen Forschungsliteratur uneindeutig (vgl. die Diskussion von Leiss 1992: 42–43 zum Begriff Perfektivität sowie dahingehend Resultativität, Terminativität und Mutativität). ↩︎